SWR2 Wort zum Tag

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15JAN2024
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Noch ist das Jahr jung, und schon werden die Tage länger. Ein Anlass, der mich staunen lässt. Selbstverständlich ist es ja nicht, dass es wieder mehr Tageslicht gibt und bergauf geht. Irgendwie hat jeder Morgen etwas Geburtliches, in dunklen Jahreszeiten erst recht.

Aber „wann beginnt der neue Tag?“, fragt ein Schüler den frommen Rabbi. Und sofort denkt man, das sollte doch klar sein. Der weise Lehrer aber antwortet. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blickst und deine Schwester oder deinen Bruder erkennst. Doch bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ Erst dann also geht die Sonne wirklich auf, wenn wir den Mitmenschen sehen und uns ihm gegenüber. Sonnenaufgang und Menschengesicht gehören zusammen. Das Licht der Welt erblicken ist nicht nur ein kosmisches Geschehen am Himmel und ein astronomischer Vorgang; es geschieht im Anblick des und der anderen. Nicht zufällig sprechen wir von leuchtenden Augen und vom strahlenden Gesicht.  Genau das meint der weise Rabbi.  Wo wir einander ansehen und Ansehen schenken, da beginnt der Tag wirklich, und die Nacht ist vorbei. Die Sonne geht auf, das Licht der Welt auf dem Gesicht des Mitmenschen. Welch ein Geschenk, wo es geschieht!

Das bringt ein wunderbarer Segenspruch auf den Punkt, uralt seit biblischen Zeiten und bis heute in den Kirchen lebendig: „Gott segne dich und behüte dich. Er lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir zugeneigt.  Gott wende dir sein Angesicht zu und schenke dir Frieden.“ (Num 6,22ff) Drei kleine Sätze, die das Leuchten der Sonne mit dem Angesicht Gottes verbinden, beides dir zugesagt, beides dir zugeneigt. Segnen heißt begrüßen, gutheißen. Genau das hatte der Rabbi im Sinn: Gottes Licht auf dem Gesicht des und der anderen, von ihm zu mir und zurück, einvernehmlich. Unmittelbar in die Sonne schauen, ist nichts für unsereinen; zu viel Energie auf einmal.  So ist es auch bei dem Geheimnis, das wir Gott nennen. Einige Schuhnummern zu groß für uns. Aber Gottes Güte auf dem Angesicht des Mitmenschen entdecken, ihn als Bruder und Schwester wahrnehmen, überhaupt alles als Mitgeschöpf – das geht, das wäre der Beginn des neuen Tages. Heute.

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