SWR2 Wort zum Tag

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04JAN2024
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Heute ist Welt-Braille-Tag, d.h. der Gedenktag der Blindenschrift - diese kleinen Hubbel im Papier. Sie heißt auch „Braille-Schrift". Der Franzose Louis Braille hat sie erfunden. Er hat gewusst, dass Blinde zwar kaum oder gar nicht sehen können, dafür aber umso besser tasten.

Abbas ist evangelischer Pfarrer und lebt in Berlin. Er ist blind, und er beschreibt wie es für ihn ist, wenn er mit seinem „Lesefinger" die Blindenschrift ertastet. Er sagt: „Dieses Gefühl ist schwer zu vermitteln. Zunächst ist es nur ein diffuses Kribbeln in den Fingern. Dann kommt der Moment, wo das Herz lacht und der Geist jauchzt: Ja, ich habe es begriffen."

Das Institut für Neuropsychologie in Hamburg hat dieses Gefühl jetzt etwas genauer untersucht. Können Blinde tatsächlich besser tasten? Es wurde herausgefunden, dass sie keine feinfühligeren Finger haben, sondern dass sie im Gehirn einfach mehr Raum dafür haben, die Informationen auszuwerten. Das, was die Finger ertasten kann schneller umgesetzt oder eben übersetzt werden, weil das Gehirn mehr Kapazitäten dafür zur Verfügung stellt.

Wenn Pfarrer Abbas über seine Blindheit spricht, dann weist er gerne auf die Chancen hin, die darin stecken. Er will nicht um das trauern, was ihm fehlt, sondern er freut sich über das, was er mit seinen Fingern und seinem super-flexiblen Gehirn leisten kann. Abbas räumt ein: „Mit den Augen geht vieles vielleicht noch flinker. Aber was soll´s, wenn ich einmal nur die Hände habe!"

Das Lesen der Braille-Schrift hat für ihn sogar eine spirituelle Seite. Vor allem wenn er seine dicke Blinden-Bibel liest. Die hat um die 8 ½ Millionen Punkte. Wenn seine Finger darüber gleiten, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz bis sich nach und nach ein Sinn erschließt, dann ist das eine spirituelle Erfahrung für ihn. Abbas, der kein Augenlicht mehr hat, sagt: „Ich lese und in mir wird es langsam immer heller. Mit keinem anderen Licht der Welt wollte ich dieses Licht tauschen."

Pfarrer Abbas kann über diese Erfahrung nur staunen. Und noch mehr staunt er über Gott. Wie viele Wege der kennt, um das Herz der Menschen zu erreichen. Ob über Musik, Gerüche, Begegnungen, Berührungen, Buchstaben oder eben über diese vielen kleinen Hubbel im Papier.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39074
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