Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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15DEZ2023
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Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Löwe und Lamm. Der Löwe stark und imposant. Das Lamm sanft und verletzlich. In der freien Wildbahn sind die beiden Feinde.

Umso absurder ist das, was der niederländische Priester Henri Nouwen rät, der unser Innerstes mit einem Löwen und einem Lamm vergleicht. Er sagt: „Lass deinen Löwen bei deinem Lamm liegen.“

Der Löwe steht bei Nouwen für das Eigenständige in uns. Mein Löwe meldet sich, wenn ich merke: hier möchte ich Position beziehen. Möchte ich mich selbstbewusst einbringen, Dinge entscheiden und vorangehen. Als Lamm dagegen bezeichnet Nouwen den Teil in uns Menschen, der Beistand und Zuneigung braucht. Ich kann etwas von dem Lamm in mir spüren, wenn ich mir wünsche, dass jemand für mich da ist, der für mich sorgt. Mir den Rücken stärkt, wenn meine Kraft nicht reicht.

Ich kenne beide Seiten in mir. Meine Löwen- und meine Lamm-Seiten. Nicht immer liegen die beiden friedlich nebeneinander. Es kommt schon vor, dass einer den anderen ordentlich zur Seite schiebt, fast verdrängt. Ich möchte zum Beispiel in einem Streit unbedingt meine Position behaupten – mein Löwe brüllt. Aber gleichzeitig gibt es eine Seite in mir, die will von Streit gar nichts wissen. Und dann ringen die beiden in mir.

Nouwen sagt dazu: „Gibst du nur auf deinen Löwen Acht, wirst du dich überfordern und bald erschöpft sein. Und siehst du nur auf dein Lamm, wirst du bald deinem Bedürfnis, anderen zu gefallen und zu imponieren, zum Opfer fallen. Die Kunst (…) besteht darin, beiden uneingeschränkt Rechnung zu tragen: deinem Löwen und deinem Lamm.“

Mir hat das Bild vom Löwen und dem Lamm geholfen. Es macht mir klar, dass es beides braucht und nicht das eine besser als das andere ist. Beides braucht Platz und will geübt werden: in einer Freundschaft genauso, wie im Beruf. Wenn ich meine Meinung und meine Bedürfnisse immer nur zurückhalte, um mich im Kollegenkreis zu integrieren und bloß nicht negativ aufzufallen, dann wird mich das innerlich genauso unruhig und unzufrieden machen, wie wenn ich meine, dass ich immer zielstrebig voranpreschen muss und es ohne mich nicht geht.

Für Nouwen liegt der Schlüssel darin, Löwe oder Lamm nicht kleinzuhalten, sondern für beide zu sorgen. Und dann – davon ist Nouwen überzeugt – beginnt der Frieden sich auszubreiten. Erst in mir und dann auch um mich herum.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38956
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