SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

29OKT2023
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Es ist fast schon zum Ritual geworden. Im Krankenhaus, in dem ich als Seelsorger arbeite. Bevor ich am Abend nach Hause fahre. Mein Besuch bei einer alten Frau.

Im Auf und ab ihrer Altersschwäche begegnen wir uns seit Wochen. Immer will die Patientin nach unserem Gespräch ihr Lied hören. Singen kann sie es schon lange nicht mehr. Die Luft fehlt. Doch das Lied ist tief drinnen in ihrem Herzen. Seit Kindheitstagen ist es ihr vertraut. Es ist das Lied vom Mond. Der aufgegangen ist. Den Sternen und dem Himmel. Hell und klar. Von den Menschenkindern, dem kranken Nachbarn und den Luftgespinsten. Das Lied das dazu einlädt sich am Abend in Gottes Namen zum Schlafen niederzulegen. Mein Handy kann ihren Wunsch erfüllen. Ein großer Chor singt das Lied unüberhörbar. Nur für uns beide. Fremde Klänge sind das im eher lauten Krankenhaus. Jetzt am Abend kommt es etwas zur Ruhe.

Ich schaue in das faltige Gesicht der Frau. Letzte Sonnenstrahlen streifen es. Entspannt hört sie zu. Zufrieden. Mit halb geschlossenen Augen. Irgendwie daheim. Bis zur letzten Strophe. Dann lächeln wir beide uns an, sprechen ein kurzes Gebet und verabschieden uns. Bis morgen. Schlafen sie gut, sage ich. Das genügt ihr.

Wer ist eigentlich glücklicher nach unseren Begegnungen. Sie oder ich!? Ich glaube wir beide sind es gleichermaßen. Und was ist das Besondere an der Begegnung zwischen der alten Frau und mir?

Mein Besuch bei ihr tut mir gut. Das Lied vom Mond der aufgegangen ist gefällt auch mir. Ohne viele Worte findet mein Tag im Krankenhaus ein gutes Ende. Zufrieden und dankbar bin ich.

Ich und Du. So lautet der Titel eines 1923 erschienen Buches des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Im Anfang ist für Buber, den gläubigen Juden, nicht etwa Gott, oder das Wort, oder der Urknall. Im Anfang ist für ihn allein die Beziehung. Wirkliches Leben ist bei ihm immer Beziehung und Begegnung von ICH und DU, wie er sagt. In Abgrenzung zu einer distanzierten Haltung, die Martin Buber ICH und ES nennt. Denn wenn wir einem Menschen begegnen, können wir ihn auch für eigene egoistische Zwecke benutzen. Wir benutzen dann eine Beziehung nur, um etwas zu erreichen. All das beschreibt Buber als die ICH-Es Haltung.

Die ICH-DU Beziehung dagegen ist sehr anspruchsvoll. In dieser Beziehung begegnen sich Menschen unmittelbar. Hier will ich kein Ziel erreichen. Und verfolge auch keinen Zweck. Immer geht es um den Anderen in seiner Gesamtheit. Um seine Würde. Immer bleibt der Andere mir ein Geheimnis. Ohne Vorbehalt versuche ich mich in ihn hineinzuversetzen. In seinen Augen entdecke ich mich irgendwie selbst. Meine eigene Würde. Meine Sehnsucht nach Gesundheit. Nach dem Freund und der Freundin, die einfach nur da sind.

Immer wenn ich das Krankenzimmer der alten Frau verlasse bin ich dankbar und beschenkt. Das war so eine ICH-DU Begegnung, sage ich mir dann.

Mein Krankenbesuch am Abend. Seit Wochen schon. Fast ein Ritual. Die Begegnung mit der alten Frau. Heute wird im katholischen Gottesdienst ein Text aus der Bibel vorgelesen, der vielen Christen sehr vertraut ist. Auch dort geht es um Begegnung zum Nächsten. Um die Frage wie Beziehungen gelingen.  Erzählt wird wie ein frommer Schriftgelehrter zu Jesus kommt und ihm eine Frage stellt:  Welches Gebot bei all den vielen Gesetzen ist das Wichtigste? Jesus antwortet souverän: "Du sollst deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

Gottesliebe und Nächstenliebe lassen sich bei Jesus nicht voneinander trennen. Sie sind für ihn zwei Seiten einer Medaille. Davon erzählt sein Leben uns Christen bis heute. Und auch für Martin Buber ist alles wirkliche Leben Begegnung. Begegnung zwischen Menschen und genau darin auch Begegnung mit Gott. Denn Gott ist für ihn, wie er sagt, das ewige DU. Gott, wie Buber ihn versteht, ist in allen liebevollen und wertschätzenden Begegnungen nämlich immer schon da. Er ist so etwas wie der Ursprung aller guten Begegnungen zwischen Menschen.

Vielleicht macht uns das im Krankenzimmer ja so dankbar und glücklich. Ohne es zu wissen, oder auszusprechen. In der allabendlichen Begegnung kommen wir uns nahe. Beim Lied. Im Gespräch. Beim Gebet zum Abschied. Uns und damit auch Gott. Dem ewigen Du.

Haben Sie viel Zeit für gute Begegnungen heute am Sonntag. Gott und Menschen nahe.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38694
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