Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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20SEP2023
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"Wenn Sie zur Tür rausgehen, weiß ich nicht mehr, dass Sie da waren", sagt ein älterer Herr zu mir und weint. Ich habe ihn an meiner neuen Stelle das erste Mal zuhause besucht, wie ich es regelmäßig bei den Alten und Kranken der Gemeinde mache.

Ich habe gespürt, dass der Mann an einem entscheidenden Wendepunkt steht. Die Demenz war da und sie wurde anscheinend von Tag zu Tag größer. Der alte Mann hat das in diesem Moment bewusst wahrgenommen. Er hat darum gewusst, dass er immer mehr in diesen Strudel des Vergessens geraten wird. Und gerade deshalb hat er so bitterlich geweint.

Ich war zuerst sehr betroffen und wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Ich hätte am liebsten mit ihm geweint. Dann habe ich einfach weitergeredet. Ganz normal mit dem Mann gesprochen. Habe mit ihm gebetet und auch alte Geschichten von der Kirche erzählt. Mir ist aufgefallen, dass der Mann in diesem Moment geistig voll dabei war. Er hat alles verstanden, was ich ihm gesagt habe. Konnte mir auch Antwort geben, wenn ich ihn etwas fragte. An seinen Augen ließ sich ablesen, dass er ganz bei der Sache war.

Dann habe ich zu ihm gesagt: "Auch, wenn Sie bald vergessen haben, dass ich da war, so sind Sie doch jetzt da! Jetzt, in diesem Moment, können wir zusammen beten, sprechen und uns freuen!". Da hat der Mann das erste Mal gelächelt.

Das Treffen mit dem dementen Mann und sein Satz über das Vergessen begleitet mich noch heute. Denn oft ist es ja auch bei mir so, dass ich mich an Menschen, Gespräche und Begegnungen nicht mehr erinnern kann. Ich vergesse sie einfach. Vielleicht auch, weil vieles zu flüchtig und zu schnell geht oder ich nicht bei der Sache bin.

Die Begegnung mit diesem Mann hat mir gezeigt, wie wichtig der konkrete Moment ist. Wenn ich ganz bei meinem Gegenüber bin, ist der Augenblick, das Hier und Jetzt, unglaublich wertvoll. Dann zählt nicht das, was gewesen ist oder das, was noch kommt. Dann ist der Moment entscheidend.

Ich glaube, dass Gott ganz nah ist, wenn wir uns ganz aufeinander einlassen. Dasein im Hier und Jetzt. Das ist entscheidend. Auch heute an diesem neuen Tag, der JETZT vor mir liegt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38403
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