SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

18AUG2023
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Heute hätte meine Mutter Geburtstag. Aber sie ist leider schon vor einigen Jahren gestorben. Am Ende war sie sehr schwach und oft in ihrer eigenen Welt. Reden war mühsam für sie, und in ihrem Leben hat sich nicht mehr so viel ereignet. Aber jeden Abend hatte sie ein festes Ritual vor dem Schlafen gehen. Sie hat mit meinem Vater zusammen gebetet und zum Abschluss das Lied „Der Mond ist aufgegangen“ gesungen.

Der Mond ist aufgegangen
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar:
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.

Dieses Lied ist mir seit Kindesbeinen vertraut. Es ist eine Art Familienschatz und ich habe es auch für meine Kinder gesungen, als sie klein waren. Wenn die Nacht kommt ist es wichtig, sich behütet zu fühlen. Dann kann man leichter loslassen und in den Schlaf finden. Bei diesem Lied verschwindet alles, was uns am Tag aufgeregt hat. Durch die Bilder und die eingängige Melodie werden wir liebevoll in eine Stille eingehüllt. Ich konnte immer nur die ersten Strophen auswendig singen. Aber meine Mutter kannte durch ihr allabendliches Ritual alle Strophen - sogar dann noch, als sie am Ende ihres Lebens dement war. Bei meinen Besuchen habe ich immer gespürt, wie wichtig ihr gerade die letzten Strophen waren.

Gott, laß uns dein Heil schauen,

auf nichts Vergänglichs trauen,

nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden,
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod,
Und wenn du uns genommen,
laß uns in Himmel kommen,
Du lieber treuer frommer Gott!

Matthias Claudius, dem wir diesen Text verdanken, hat fest daran geglaubt, dass wir nach unserem Leben wieder zu Gott heimkehren dürfen. Der Tod war für ihn nicht das Ende, sondern ein Übergang aus dem irdischen in das himmlische Leben. Gerade dann, wenn die letzte Lebensphase sehr mühsam ist, ist das ein tröstlicher Gedanke. Wenn man Ängste hat und es schwerfällt, das Leben los zu lassen. Meine Mutter hat dieses Lied bis zu ihrem Tod jeden Abend gesungen. Und ich bin überzeugt, dass ihr das geholfen hat, sich am Ende ihres Lebens Gott anzuvertrauen.

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