Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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21JUL2023
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Haben Sie diese Woche schon geweint? Eine sehr persönliche Frage. Und die meisten Erwachsenen reden nicht gern darüber – jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit.

In einem schlauen Artikel habe ich gelesen, dass wir im Lauf unseres Lebens etwa 70 Liter Tränen vergießen. Das ist eine Menge: 7 volle Wassereimer. 4,2 Millionen Tränen. Viele dieser Tränen weinen wir schon als kleine Kinder. Aber fürs Erwachsenenalter bleibt da noch einiges übrig. Auch Tränen, die im Verborgenen fließen. Wir weinen, wenn wir traurig sind oder zornig oder erschöpft oder völlig überwältigt. Auch vor Glück, die Freudentränen. Und wenn doch mal jemand öffentlich weinen muss – bei einer Beerdigung zum Beispiel - , dann erlebe ich bei trauernden Angehörigen manchmal, dass sie sich für ihre Tränen entschuldigen. Vor allem Männer. Dabei sind Tränen ja nichts, wofür wir uns schämen müssten. Sie erzählen etwas von uns, von unsrem Leben.

In einem Gebet der Bibel habe ich dazu einen Satz gelesen, den ich faszinierend finde: „Gott, sammle meine Tränen in einen Krug. Ohne Zweifel, du zählst sie.“ Ein ungewöhnlicher Gedanke: Gott sammelt Tränen. Sammeln oder aufbewahren, das mache ich eher mit etwas Schönem, das ich nicht vergessen will. Ein Reiseandenken oder Familien-Photos. Aber in dem Gebet möchte jemand, dass Gott seine Tränen sammelt. 4,2 Millionen. Da sagt jemand (übrigens ein Mann!): Meine Tränen sind wichtig. Sie erzählen auch eine Geschichte. Und Gott fühlt mit mir.

Ich habe um einen Menschen geweint, den ich vermisse. Ich war überwältigt von Glück. Ich habe zutiefst mitgefühlt mit einem Menschen, dessen Not mich beelendet hat. Und manchmal ist mir zum Heulen zumute, wenn ich in den Nachrichten von einer Katastrophe höre oder von schamloser Ungerechtigkeit.

Ich schäme mich meiner Tränen nicht. Ich schäme mich nicht dafür, dass mir manches nah geht. Vielleicht hilft mir gerade mein Mitgefühl dabei, einem anderen Menschen in seiner Not zu helfen, so gut ich kann. Dann wären die Tränen der Anfang davon, dass ich versuche, etwas zum Guten zu verändern.

Ich weiß nicht, bei der wievielten Träne ich inzwischen angekommen bin. Aber jedenfalls will ich sie nicht einfach wegwischen. Sie erzählen eine Geschichte. Meine Geschichte.

Bibelstelle: Psalm 56,9

https://www.kirche-im-swr.de/?m=38031
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