Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

02MAI2023
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

1.577.000.000 Sekunden. So lange werde ich vermutlich noch leben. Zumindest laut durchschnittlicher Lebenserwartung. Und während ich hier spreche, sind es ein paar Sekunden weniger geworden.

Ich bin froh, dass ich die Zahl, die Sekunde für Sekunde kleiner wird, nicht ständig vor Augen habe. Anders geht es Jean-Remy von Matt[1]. Er hat eine Uhr entwickelt, die mit leuchtenden Ziffern anzeigt, wie lange man voraussichtlich noch zu leben hat. In Sekunden. Damit man sich bei einem Blick auf die Uhr bewusst macht, wie vergänglich das Leben ist.

Die Idee dazu hatte er an einem Geburtstag. Er hat sich gefragt: „Warum zählen wir eigentlich die Jahre, die hinter uns liegen – viel spannender ist doch, was vor uns liegt! Auf einer Milchtüte interessiert uns ja auch nicht, wann sie hergestellt wurde, sondern, wie lange sie noch frisch bleibt. Und von der Tankanzeige wollen wir nicht wissen, wie weit wir gefahren sind, sondern wie weit es noch reicht.“

Die Uhr, die er daraufhin entwickelt hat, wird individuell auf die durchschnittlich verbleibende Lebenszeit eingestellt und zählt dann in Sekunden runter. Natürlich kann niemand genau voraussagen, wann ein Mensch sterben wird. Doch darum geht es Jean-Remy auch gar nicht. Wichtiger ist ihm die Botschaft, die er mit der Uhr verbindet. Sie erinnert ihn ständig daran, das Beste aus dem Leben zu machen. Deshalb hat er die Uhr auch „Carpe Vitam Clock“ genannt. Also eine „Nutze-das Leben-Uhr.“

Die Zeit zu nutzen und das eigene Leben nicht zu verplempern, diesen Appell gibt es schon lange. Und auch mir hilft es, mir ab und zu bewusst zu machen, dass ich irgendwann sterben werde. Es gibt mir den nötigen Schwung, Dinge anzupacken, die ich vor mir herschiebe. Oder zu unterscheiden, was mir eigentlich im Leben wichtig ist: Freunde treffen statt auf dem Sofa zu sitzen, zum Beispiel.

Gleichzeitig will ich mich von der ablaufenden Lebenszeit aber nicht stressen lassen. Ich finde, dass es im Leben nicht nur darum geht, sich selbst zu optimieren und möglichst das Beste rauszuholen. Sondern dass ich am Ende meines Lebens hoffentlich dankbar sagen kann: In meinem Leben gab´s Hochs und Tiefs, Schönes und Schweres, aber im Ganzen ist es gut, so wie es war.

Und deshalb müsste meine „Carpe Vitam Clock“ immer das anzeigen, was die Uhr von Jean-Remy als Überraschung am Ende bereithält. Denn wenn die letzte Sekunde Lebenszeit abgelaufen ist, zählt seine Uhr wieder hoch. Und alle zehn Sekunden erscheint die Frage “Still alive?”, also „Lebst Du noch?“ und dann die Antwort: “It’s a gift!” „Es ist ein Geschenk.“

 

[1]https://www.jean-remy.de/carpevitamclock

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37576
weiterlesen...