SWR2 Wort zum Tag

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01MAI2023
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„Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit! (Matth 5,6)

Dieses Wort von Jesus aus der Bergpredigt könnte heute über dem 1. Mai stehen.
Es geht am 1. Mai um den Hunger nach sozialer Gerechtigkeit. Mitte des 19. Jahrhunderts haben Arbeitende illegal gestreikt – sind für ihre Forderungen auf die Straße gegangen – unter Gefahr für Leib und Leben – mit der Angst, ihre Arbeit zu verlieren. Die Arbeitsbedingungen waren unmenschlich.
Da rief 1886 die Arbeiterbewegung in den USA am 1. Mai zum Generalstreik auf: 8 Stunden pro Tag arbeiten - und nicht länger. Seither wurde der 1. Mai als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ bezeichnet. In seiner langen Geschichte hatte er auch sehr andere Gesichter:
Im Nationalsozialismus wurde der 1. Mai 1933 gesetzlicher Feiertag und stand unter der Überschrift „Tag der nationalen Arbeit“. Ein Jahr darauf wurde er zum „nationalen Feiertag des deutschen Volkes“ erklärt.  Später, unter kommunistischer Diktatur, ist der 1. Mai zu einem Tag der Lobgesänge auf die Arbeiterschaft und ihrer Produktionserfolge verkommen - zur Huldigung der Herrschenden und ihrer Herrschaft. Keine Spur mehr von Protest, von einem Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit.

Wie ist das heute bei uns? Hierzulande können sich Menschen in unabhängigen Gewerkschaften frei organisieren. Dazu passt Jesu Aufruf: „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – sie sollen satt werden!“ Ich stelle mit vor: Menschen gehen in einem Betrieb zur Arbeit.

Die einen arbeiten in der Fertigung, in der Materialausgabe oder im Reinigungsdienst.
Andere sind als sogenannte „Führungskräfte und Leistungsträger“ in der Entwicklung, in der Personalabteilung oder im Firmenvorstand tätig. Die einen wie die anderen bringen ihre Lebensenergien ein, Tag für die Tag. Für die einen reicht der Lohn für Miete, Essen und Kleidung, für ein auskömmliches Leben - hoffentlich. Andere bekommen mitunter das X-fache für ihre Arbeit bezahlt.

Wofür? Und warum eigentlich? Gewerkschaften wehren sich gegen eine solche krasse Einkommensschere. Sie könnten sich dabei auf Jesus berufen.

Denn der hat einmal folgende Geschichte erzählt: Ein Weinbergbesitzer stellt Tagelöhner ein (Matth 20). Die einen arbeiten den ganzen Tag, von morgens früh bis spät abends. Andere nur ein paar Stunden bis zum Feierabend. Bei der Lohnauszahlung gibt es Ärger. Die, die den ganzen Tag gearbeitet haben, bekommen einen Denar. Wie vereinbart. Das ist ein angemessener Lohn und reicht üppig für alles, was sie brauchen. Aber es ist nicht mehr als das, was die bekommen, die nur ein paar Stunden gearbeitet haben. Die haben nämlich auch einen Denar bekommen. Das ist für ihr Empfinden ungerecht. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das wäre doch gerecht! Aber: Gleicher Lohn für eine ungleich lange Arbeitszeit? Eine Ungerechtigkeit auf den ersten Blick. Die irritiert.

Offenbar gibt es bei Jesus noch ein anderes Kriterium als nur allein die Dauer der Arbeitszeit: Es soll für alle so viel geben, wie ein Mensch zum Leben braucht. Ganz gleich, was und wie viel er oder sie leistet. Denn darauf zielen seine Wort ab: „Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit! – sie sollen satt werden.“ Und zwar alle.

Das erinnert mich  an den Bericht von einem Freund, der Ende der 50er Jahre Israel bereist hat. Er hat erlebt, wie dort in landwirtschaftlichen Gemeinschaften alle mit einem Einheitslohn gut leben konnten. Von diesem Geist ist auch heute in den Gewerkschaften noch etwas lebendig:
Immer stärker setzen sie sich für Niedriglohngruppen ein – für Sockelbeträge und Einmalzahlungen. Denn eine rein prozentuale Lohnerhöhung begünstigt ja vor allem diejenigen, die schon viel verdienen.

Und wie ist das mit meinem Einkommen? Wenn ich einkaufe, sehe ich in den Läden Gemüse, Kleidung oder Elektrogeräte zu Niedrigstpreisen. Aus fernen Ländern. Ich frage mich: Wie kann ein Mensch und wie eine Familie von so einem Arbeitslohn leben? Deswegen fordern immer mehr Menschen einen globalen Mindestlohn. Damit alle, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, satt werden.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=37542
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