Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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30DEZ2022
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Zuerst denke ich: Da braucht jemand Hilfe. Zwischen zwei parkenden Autos steht ein Paar Schuhe, und ich kann die Füße eines offenbar am Boden liegenden Mannes sehen. Beim Näherkommen vervollständigt sich das Bild: Der Man liegt nicht am Boden, sondern kniet auf einem kleinen Teppich, der schräg zwischen den Autos nach Osten ausgerichtet ist. Der Mann betet.

Mitten in der Großstadt zwischen parkenden Autos, unberührt vom Verkehr und den Fußgängern erfüllt ein muslimischer Gläubiger seine Gebetspflicht. Es geht ihm offensichtlich nicht um eine Demonstration. Sonst hätte er sich einen belebten Platz gesucht, nicht eine Parklücke. Er will einfach nur beten.

Mich hat diese Begegnung sehr berührt. Die Selbstverständlichkeit hat mich beeindruckt, mit der der Mann seine Religion ausübt. Und ebenso die Courage, dies unaufdringlich, aber doch öffentlich zu tun.

Früher haben Menschen auch im Restaurant häufiger vor dem Essen still gebetet, erkennbar an dem kurzen stillen Verweilen vor den servierten Speisen und vielleicht an einem Kreuzzeichen.

An bestimmten Plätzen, zum Beispiel vor dem Mainzer Kaufhof, trafen sich in meiner Kindheit Menschen zum gemeinsamen Rosenkranzgebet. Religion und Glaube waren so unaufdringlich, aber erkennbar in der Öffentlichkeit präsent. Heute erlebe ich so etwas selten. Religion scheint nicht nur privat, sondern regelrecht intim, fast peinlich zu sein. Man behelligt damit nicht andere, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Schließlich will man niemand missionieren – und auch nicht missioniert werden.

Doch das Beispiel des muslimischen Beters zeigt mir: Es geht gar nicht um aggressive Mission. Es geht um die Selbstverständlichkeit des religiösen Lebens. Wenn ich einen Anlass habe zu beten, dann bete ich – ob zu Hause oder im Restaurant, ob im Familienkreis oder wenn ich mit Freunden unterwegs bin. Das ist keine Glaubensdemonstration, sondern einfach mein religiöser Alltag. Das ist Religionsfreiheit, vielleicht auch Ermunterung für andere. Das muss mir nicht peinlich sein, und andere müssen daran keinen Anstoß nehmen. Ich vertraue da auf ihre religiöse Toleranz. So wie der muslimische Beter darauf vertraut hat, dass die Passanten sein Beten respektieren.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36732
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