Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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02NOV2022
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Es gibt Bilder, die man ein Leben lang nicht vergisst. Heute, an Allerseelen, sehe ich eines wieder vor mir. Als kleiner Junge, ich war noch nicht in der Schule, bekam ich ein schmales Gebetbuch mit vielen Bildern. Eine Darstellung ließ mich nicht los. Ich musste sie immer wieder anschauen, obwohl mir auch davor graute.

Das Bild zeigte den gekreuzigten Jesus. Aus seinen Wundmalen floss das Blut herab. Tief unter dem Kreuz sah man Männer und Frauen, die in einem Flammenmeer standen. Ihre Haare waren aschgrau. Voller Verzweiflung erhoben sie die Hände hilfesuchend zu dem Mann am Kreuz. Das daneben abgedruckte Gebet machte klar, dass es sich um Verstorbene handelte, die nun im Fegefeuer gequält wurden und auf ihre Erlösung hofften. Der Text dazu war unmissverständlich:

„Lieber Heiland, sei so gut, lasse doch dein teures Blut in das Fegefeuer fließen, wo die Armen Seelen büßen. Ach, sie leiden große Pein, wollest ihnen gnädig sein.“

Welche Ängste haben diese grauenhaften Bilder über Jahrhunderte in den Menschen ausgelöst! Und wie grausam muss ein Gott sein, der die Verstorbenen so brutal straft!

Wenn ich gerade heute, an Allerseelen, in Dankbarkeit an die Menschen denke, die mich in meinem Leben begleitet haben, dann ist da für ein „Fegefeuer“ wie in meinem alten Gebetbuch kein Platz. Meine christliche Hoffnung sagt mir, dass Gott die Toten zu sich genommen hat, dass sie nicht tiefer fallen können als in seine Hände.

Und ich denke dabei an Jesus, der einem der mit ihm Gekreuzigten versicherte: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,42)

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