SWR2 Wort zum Tag

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09NOV2022
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Der 9. November wird auch der Schicksalstag der Deutschen genannt. Zweifellos ist es ein Datum, an dem sich markante Ereignisse in unserer Geschichte häufen. Aber ob es unser Schicksalstag ist? Wenn von Schicksal die Rede ist, dann geht es um etwas, das von höheren Mächten bestimmt wird. Etwas geschieht, auf das eine Person oder eine Gruppe keinen Einfluss hat. Man ist seinem Schicksal ausgeliefert. Wenn ich den 9. November mit dem Schicksal verbinde, dann denke ich aber nicht nur daran, dass er für das Geschick der Deutschen bedeutsam ist. Noch mehr steht der Tag dafür, dass sich aus der Mitte der Deutschen eine große Gruppe dazu aufgeschwungen hat, das Schicksal über andere zu bestimmen. In den Pogromen, die um den 9. November 1938 stattgefunden haben, zeigt sich das. Da brannten Synagogen, jüdische Menschen wurden verprügelt und ermordet. Wenn es also um Schicksal gehen soll, dann doch eher um das Schicksal derer, die diesen organisierten Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Deshalb ist der 9. November auch zurecht ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Was in dieser Zeit hier und in ganz Europa stattgefunden hat, ist in seiner Menschenverachtung, seiner Radikalität und Konsequenz einzigartig. Ich finde, wir dürfen nicht müde werden das zu betonen. Aber es gibt Menschen, die sagen, sie seien genau das: Müde. Sie wollen es nicht mehr hören. Da ist dann von Dingen wie „Schuldkult“ die Rede. Begriffe, die zu Schlagwörtern werden. Und in manchen Kreisen werden wieder antisemitische Symbole und Redewendungen alltäglich, Juden werden wieder mehr und mehr diffamiert. Sogar körperlich angegangen. Ähnliches passiert Sinti und Roma und anderen Gruppen, die als „andersartig“ bezeichnet werden.

Ich hatte nie Probleme damit, mich der Geschichte meines Landes zu stellen. Ich bin 1980 geboren und es gibt niemanden, der mir eine persönliche Schuld an der Zeit davor anlastet. Aber mittlerweile sieht es anders aus. Weil die Radikalisierung nicht aufhört und sich verbreitet, geht es auch mich an. Da stehe ich als Deutscher in der Verantwortung. Nicht für das, was meine Vorfahren getan haben. Sondern dafür, was ich jetzt in dieser Situation tue oder eben nicht tue. Die, die das Erinnern an die Schoah verweigern, bewirken keine Entlastung und keinen Schlussstrich. Sondern das Gegenteil. Indem sie die Geschichte kleinreden und verleugnen, holen sie etwas von der Schuld der Vergangenheit ins Heute. Wer wirkliche historische Schuld verleugnet, erneuert sie erst recht. Dann wird sie eine immerwährende Schuld. Das allerdings hat dann mit Schicksal nichts mehr zu tun.

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