Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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17JAN2022
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Auf meinem Dachboden steht eine Kiste mit alten Tagebüchern. Beim Verstauen der Weihnachtsdekoration habe ich wieder einmal einen Blick hineingeworfen und einzelne Exemplare herausgezogen. Mit den unterschiedlichsten Formen habe ich schon experimentiert: Da finden sich kurze, stichwortartige Notizen in einem Kalender, ausführliche Selbstgespräche, Briefe an imaginäre Freundinnen. Viele dieser Tagebücher beginnen im Januar eines Jahres. Sie dokumentieren den immer wieder neu gefassten Vorsatz, mein Leben festzuhalten. Lange durchgehalten habe ich das Tagebuchführen nie. Es lässt sich nicht festhalten, das Leben. 

In einem biblischen Gebet, in dem ein Mensch Gott als Gesprächspartner heranzieht, steht: „Alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ Da stelle ich mir den Himmel vor wie einen riesigen Dachboden voller Bücher. Jedes einzelne enthält die komplette Lebensgeschichte eines Menschen. Tag für Tag festgehalten in Gottes wunderschöner Handschrift: Dramen, Krimis, Kurzgeschichten, Bilderbücher, Gedichte und mehrbändige Werke. Aber selbst Gott im Himmel käme mit dem Schreiben wohl kaum hinterher, wenn er alles festhalten sollte, was auf der Erde passiert.

Nein, ich glaube nicht, dass einer im Himmel sitzt und tatsächlich Buch führt über der Menschen Zeitvertreib, aber ich glaube, dass ich mit allem, was ich tue und was mir widerfährt, aufgehoben bin. Festgehalten und von guten Mächten wunderbar geborgen. Ich verlasse mich darauf, dass nichts und niemand mich aus Gottes Obhut reißen kann. Dass ich nicht herausfallen kann aus seiner Umarmung. Der Psalm fasst es so zusammen: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

Meine alten Tagebücher habe ich wieder in die Kiste zurückgelegt. Ich habe sie nicht gelesen und werde auch kein neues beginnen. Aber dann habe ich in der Zeitung von einem Mann gelesen, der eine ganz besondere Form des Tagebuchschreibens für sich entwickelt hat: Seit vielen Jahren tupft er jeden Morgen mit einem Pinsel einen kleinen Punkt auf eine Leinwand. Der Punkt ist auch ein Ausrufezeichen. Beständigkeitsübung und Bewusstseinsschärfung in einem. Ich bin da, heißt der Punkt. Ich lebe. Manchmal ist er kleiner, manchmal größer, ganz nach Stimmung. Und am Ende sieht jede Leinwand ein bisschen aus wie eine Karte vom Weltall. Jeder Mensch eine eigene Welt. 

Das gefällt mir. Vielleicht probiere ich das einmal aus.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=34686
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