Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW
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„…wenn ich nur jeden Tag aufstehen kann…“ an diesen Satz meiner Großmutter muss ich grad oft denken. Nicht nur einmal hat sie ihn gesagt – immer und immer wieder hab ich ihn gehört. Als Zwanzigjährige hab ich nur erahnt, wieviel an Lebensqualität für sie hinter diesem Wunsch gestanden hat.
Heute ist mir deutlich bewusst, dass es alles andere als selbstverständlich ist, dass ich in der Regel jeden Morgen aus dem Bett komme und in den Tag gehen kann. Das versuche ich mir immer wieder bewusst zu machen und auch dankbar dafür zu sein. Auch für das so selbstverständliche Geschenk, dass jeden Morgen die Sonne über unserem Planeten wieder aufgeht. Oder dass ich jeden Tag die Chance habe, neu anzufangen.
Manchmal graut mir auch vor dem nächsten Morgen und das Aufstehen fällt mir schwer, weil was Schwieriges ansteht: Eine Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühle, oder weil ein Problem, das die Familie umtreibt, gelöst werden sollte. Oder wenn in meinem Umfeld jemand schwer erkrankt ist, und es keine Heilung mehr gibt – dann finde ich es besonders schwer und dann kann ich den Morgen nicht gerade dankbar oder gar freudig begrüßen.
Aber heute hoffe ich auf einen Tag, in den ich dankbar gehen kann. Ohne dabei diejenigen aus dem Blick zu verlieren, denen heute Schweres bevorsteht oder die das Bett hüten müssen.Dabei bestärkt mich ein Gedicht von Rose Ausländer, in dem sie schreibt:
Wieder ein Morgen
Ohne Gespenster
Im Tau funkelt der Regenbogen
als Zeichen der Versöhnung
Du darfst dich freuen
über den vollkommenen Bau der Rose
darfst dich im grünen Labyrinth
verlieren und wiederfinden
in klarer Gestalt
Du darfst ein Mensch sein
arglos
Der Morgentraum erzählt dir
Märchen du darfst
die Dinge neu ordnen
Farben verteilen
und wieder
schön sagen
an diesem Morgen
Du Schöpfer und Geschöpf
„Versöhnung“ aus: Rose Ausländer, Gelassen atmet der Tag, Frankfurt 2002, S. 102
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