SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Weihnachten liegt schon einen Monat zurück - dennoch möchte ich Ihnen eine Weihnachtsgeschichte erzählen. Ich glaube, sie enthält eine Botschaft für das ganze Jahr.
Die Geschichte spielt in Finnland zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Eine finnische Patrouille hat den Auftrag, Stellungen des russischen Gegners in den riesigen Wäldern Kareliens auszuspähen. Auf Skiern gleiten die sieben Männer, stets in höchster Alarmbereitschaft, durch die Schneeeinsamkeit. In einem bereits geräumten, menschenleeren Dorf hören sie plötzlich aus einem Haus Kinderweinen. Die Männer finden ein Kleinkind: auf seiner Unterlage festgezurrt mit Stricken, die mit einer Zündvorrichtung unter dem Bett verbunden sind. Wer das Kind aufnehmen will, muss mit ihm zusammen in die Luft fliegen!
„Weg von dieser teuflischen Falle!“ (22) ist die erste Reaktion der Soldaten, doch einer von ihnen, der große schweigsame Korporal Jänttinen,
handelt anders. Wortlos – unter Lebensgefahr - schneidet er die Stricke durch und hebt das Kind mitsamt seinen Decken auf. Und so erscheint er - zum Entsetzen der ganzen Gruppe - auf dem Sammelplatz: ein unförmiges Bündel vor die Brust gehängt, darin ein lebendiges Kind! „Ich nehme es halt mit“, ist sein einziger Kommentar dazu. Allen ist klar, welcher Gefahr sie ab sofort ausgesetzt sind: Das Kind kann die Männer jederzeit durch Schreien und Weinen dem Feind verraten.
In den folgenden Tagen werden alle Zeuge, wie Jänttinen seinen Schützling versorgt: Er kaut grobes schwarzes Kommissbrot vor und füttert ihn mit diesem Brei; er wäscht sein Gesicht behutsam mit Verbandmull; und in der Nacht sieht man ihn schlafen, „Kind und Maschinenpistole an der Brust“ (28).
Auf dem Rückweg – unmittelbar vor den feindlichen Linien – wird es hoch gefährlich: Das Kind beginnt zu wimmern. Jänttinen, über das Bündel gebeugt, flüstert wie in höchster Not mit unzähligen Kosenamen auf das Kind ein. Dann sehen die Kameraden, wie er „statt der Maschinenpistole das Kind in seinen Armen“ hält und „langsam hin und her“ wiegt (46). Welch eine Szene mitten in Feindesland! Das Kind wird tatsächlich still, und die Männer gelangen nach gefährlicher Fahrt sicher auf die eigene Seite. Erst die Scherze der Kameraden dort erinnern sie daran, dass Weihnachten ist. Doch, so sagt der Leutnant, „sie seien nicht deshalb gekommen, sondern ‚wegen dem Kind da’“. Und er zeigt dabei „auf den riesigen Korporal“ mit seinem Bündel (64).


Musik

Ich erzähle die Geschichte des finnischen Korporals Jänttinen, der im Zweiten Weltkrieg in Feindesland ein verlassenes Kind auffindet. Ehe es, wie vom Gegner geplant, einen tödlichen Sprengsatz auslösen kann, nimmt es der Soldat an sich. Er versorgt es und hält es ruhig, so dass der ganze Spähtrupp trotz höchster Gefahr sicher zu den Kameraden zurückkommt – am Heiligen Abend.
Am nächsten Tag wird das Kind einer Frau übergeben, die es in ein Heim für Kriegwaisen bringen soll. Die Trennung fällt Jänttinen schwer: Er hat den russischen Findling lieb gewonnen.
Einen Tag später steht der Mann vor den Trümmern seines Hauses in der Heimatstadt: Ein Bombenangriff hat seine ganze Familie – Frau und zwei Kinder- ausgelöscht. Versteinert vor Schmerz fährt er an die Front zurück – er weiß nicht, wohin sonst. Erst die Frage einer älteren Frau löst seine Erstarrung: Ist er nicht der Mann, der ihr vor zwei Wochen ein russisches Findelkind übergeben hat?
Bald danach steht Jänttinen in dem kärglichen Raum des Waisenhauses, geht zögernd auf die dort spielenden Kinder zu und murmelt etwas, was nur eins von ihnen zu verstehen scheint. „Ein kaum merklicher Widerschein des Erkennens geht über das kleine Gesicht“ (100) und wenig später kniet der große schwere Mann auf dem Boden und hält seinen Juhani in den Armen. Er hat dem Kind das Leben gerettet – nun führt es ihn aus seiner Vereinsamung ins Leben zurück.

Was mich an diesem Mann beeindruckt, ist die Selbstverständlichkeit, mit der er handelt. Dass das Kind zum Volk des Kriegsgegners gehört, dass es ihn sogar töten soll, spielt für ihn keine Rolle. Hier ist ein wehrloser kleiner Mensch, der Hilfe braucht - nur das zählt. Die brutale Kriegsgewalt, den kalten Terror kann er damit nicht aus der Welt schaffen. Aber indem er dieses eine junge Leben rettet, eröffnet er neue Zukunft: für das Kind, aber auch für sich selbst.
Ich glaube, diese Grundeinstellung ist wichtig: Kinder sind die kostbarste Gabe und Aufgabe einer Gesellschaft – und das nicht nur aus ökonomischen Gründen! Wo diese Überzeugung fehlt, werden noch so viele Förderprogramme und Aktionen „Pro Kind und Familie“ nur wenig bewirken.
Jesus nahm einmal ein Kind in die Arme und sagte zu seinen Jüngern: „Wer ein solches Kind (…) aufnimmt, der nimmt mich auf“ (Markus 9, 37). Damit gab Jesus den Kleinen und Schwachen dieser Welt eine bis dahin unbekannte Würde: Er identifiziert sich mit ihnen. Vielleicht hat der Schriftsteller Edzard Schaper, der Verfasser der Geschichte, an dieses Wort gedacht, denn er gab ihr den Titel: „Das C h r i s t k i n d aus den großen Wäldern.“


Literatur: Edzard Schaper, Das Christkind aus den großen Wäldern. Artemis Verlag,
München und Zürich, 15. Aufl. 1976.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2978
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