Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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24AUG2019
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Ach, ich kann nicht klagen. Das sagen manche, wenn man fragt, wie es geht. „Ach, ich kann nicht klagen“ – das klingt für mich immer irgendwie bedauernd. Als ob es schöner wäre, wenn man klagen könnte – oder interessanter. Einfacher ist es jedenfalls oft. Gründe zum Klagen, was nicht so gut läuft, die fallen auch mir eigentlich sofort ein.

Aber wenn einem immer zuerst vor Augen ist, was nicht gut läuft, dann gewöhnt man sich eine merkwürdig schlecht gelaunte Sicht auf sein Leben an. Darunter verschwindet all das, was gut ist und schön und Freude macht. So wird man mutlos und kraftlos.

Wahrscheinlich wäre es deshalb sinnvoller, erst einmal auf das zu schauen, was gut ist und was gelingt. Schon die Gebete der Bibel fordern dazu auf und viele Kirchenlieder auch. „Lobe den Herrn“ oder auch „Danket dem Herrn“, so fangen viele Gebete in der Bibel an. Die Menschen haben anscheinend damals schon gegen die negative Sicht auf ihr Leben ankämpfen müssen.

Zuerst auf das Gute sehen. Kann man das lernen? Es gibt eine japanische Meditationsmethode, die das lehrt. Dabei geht es darum, auf sein Leben zu schauen mit drei Fragen. Zum Beispiel:

1. Was hat meine Mutter Gutes für mich getan?
2. Was habe ich ihr Gutes zurückgegeben?
3. Welche Schwierigkeiten habe ich ihr bereitet?

So soll man fragen und dabei sich ganz auf wirklich Erlebtes beschränken. Nicht bewerten. Nicht urteilen. Nur fragen, was war. Was habe ich erlebt. Und schon, wenn es um die Mutter geht, fallen einem irgendwann die unzähligen Mittagessen ein, die leckeren Kuchen, die Pflaster, die sie einem mit tröstenden Worten aufs Knie geklebt hat. Später vielleicht ihre Geduld mit den Enkelkindern, die unendlich vielen Socken, die sie gestrickt hat.

Natürlich kann man statt der Mutter auch nach anderen wichtigen Personen fragen und sich an das Gute erinnern, was sie einem getan haben. Wenn man das eine Weile lang konsequent tut – ich finde, dann verändert sich etwas. Dann schaut man anders auf sein Leben.

Vielleicht fragen Sie jetzt: Ja, aber das, was sie mir angetan haben, wo bleibt das? Was ich hinnehmen musste, was mir vielleicht geschadet hat? Was vielleicht mein ganzes Leben negativ geprägt hat? Diese Meditation blendet das ganz bewusst aus, mit dem Argument: Das fällt einem ja sowieso immerzu ein. Aber ich mache mir das Leben schwer, wenn ich das andere vergesse: Das Gute. Das Schöne. Das, was mir Freude gemacht hat. Sich daran erinnern: So kann man Dankbarkeit lernen. Und Kraft gewinnen für die Schwierigkeiten des Lebens.

Gerald Steinke/Claudia Müller-Ebeling: Naikan - Versöhnung mit sich selbst. Kamphausen-Verlag, 2003

 

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