Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Zwei Wochen ist es jetzt alt, das neue Schuljahr. Und schon fängt auch das wieder an, was vielen die Lust an der Schule nimmt: das ständige Messen der Leistung, und am Ende immer eine Note, die sagt, bei welcher wie der Schüler und die Schülerin steht. Das wäre ja gar nicht schlimm, wenn es nur darum ginge. Aber es geht immer um mehr als die sachliche Information über Leistungen und Defizite. Es geht auch um den Vergleich: Wer ist die Beste, der Schnellste, die Vielseitigste? Und wo stehe ich in dieser Skala der Leistung? Kann ich mithalten in diesem dauernden Vergleichen?

Und wenn ich die Schule geschafft und die Ausbildung abgeschlossen habe, dann geht es gerade so weiter. Überall finde ich mich in solchen Rankings. Wer ist die beste Mutter, der tüchtigste Kollege, der fitteste Sportler. In einem Gedicht beschreibt der Schriftsteller Robert Gernhardt dieses anstrengende Vergleichen, mit einem Augenzwinkern, wie es so seine Art ist:

Immer einer behender als du – Du kriechst – Er geht – Du gehst – Er läuft – Du läufst Er fliegt: Einer immer noch behender.  Einer immer begabter als du – Du liest – Er lernt – Du lernst – Er forscht – Du forschst – Er findet: Einer immer noch begabter.  Immer einer berühmter als du – Du stehst in der Zeitung – Er steht im Lexikon – Du stehst im Lexikon – Er steht in den Annalen – Du stehst in den Annalen – Er steht auf dem Sockel: Einer immer noch berühmter… Immer einer beliebter als du – Du wirst gelobt – er wird geliebt – Du wirst geehrt – Er wird verehrt – Dir liegt man zu Füßen – Ihn trägt man auf Händen: Einer immer noch beliebter… Immer – Immer – Immer.[1]

Der Beste oder die Erste sein zu wollen, ist nicht nur furchtbar anstrengend, sondern auch irgendwie absurd. Was sich da in unseren Köpfen abspielt, ist ein Kampf gegen uns selbst, der nie wirklich zu gewinnen ist.

Stattdessen könnten wir doch ganz einfach sagen: Gut ist gut genug. Und was gut ist, das ist für jeden sein individuelles Maß. Für einen Schüler, der sich tapfer durchbeißt, kann auch ausreichend gut genug sein. Akzeptieren, dass nicht alle gleich sind. Und dass wir glücklicher und friedlicher miteinander leben könnten, wenn wir den ersten Platz – einfach freilassen würden.



[1]    Robert Gernhardt, Reim und Zeit. Gedichte, Reclam-Verlag, S. 93ff 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=27230
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