Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Zurückhaltende Menschen sind anstrengend. Ich weiß das, weil ich selbst eher zurückhaltend bin. Und weil eine Bekannte mir das neulich gesagt hat: „Du bist anstrengend“, hat sie gemeint. „Bei Dir weiß man gar nicht, was Du denkst. Du sagst es ja nicht. Man muss sich dauernd überlegen, was für Dich ok ist und was nicht“. Sie war richtig sauer.

Und ich war erstaunt. Eigentlich finde ich mich freundlich. Nicht gleich sagen was man will, sondern erst einmal schauen, was die anderen wollen. Nicht gleich nach vorne preschen, sondern abwarten, was mein Gegenüber macht. Erst mal zuhören statt dem andern meine Ansichten aufs Auge drücken. Ist doch freundlich, und auch christlich, oder? Meine Bekannte findet das nicht: „Bei dir weiß man gar nicht, woran man ist“, sagt sie.

Wenn ich darüber nachdenke, hat sie schon ein bisschen Recht. Wer zurückhaltend ist, der versteckt sich in gewisser Weise. Er zeigt sich nicht. Der andere kriegt ihn nicht richtig zu fassen. Er weiß nicht, was der Zurückhaltende wirklich denkt oder will. Stimmt schon: Das ist nicht freundlich, sondern in gewissem Sinn sogar unaufrichtig.

Und christlich ist es auch nicht. Jedenfalls war Jesus Christus gar nicht zurückhaltend. In der Bibel steht: Die Menschen wussten ziemlich schnell, woran sie mit ihm waren. Jesus hat seine Meinung gesagt. Er hat gesagt, was er richtig fand und was nicht. Er hat eine Frau auf ihre ständig wechselnden Lebenspartner angesprochen. Einem reichen jungen Mann hat Jesus gesagt, dass Reiche nur schwer in den Himmel kommen. Und als eine Frau Jesus mit einem teuren Öl gesalbt hat, fanden alle im Raum das total daneben. Jesus fand das gut. – Jesus hat sich gezeigt, er war greifbar für die Menschen. Sie wussten, woran sie mit ihm waren. Klar: Einige hat Jesus fasziniert, andere konnten nichts mit ihm anfangen, wieder andere hat er abgestoßen.

Vielleicht ist es das, was zurückhaltende Menschen dazu bringt, sich nicht so richtig zu zeigen:  Die Angst, anzuecken. Dahinter steht aber ein Missverständnis: Zurückhaltende glauben, dass sie sich sozusagen neutral verhalten können. Sie denken, durch ihre Zurückhaltung kommt gar nichts beim anderen an. Aber so ist das nicht. „Du bist anstrengend“, hat meine Bekannte gesagt. Und ich habe gemerkt: Man kann sich nicht nicht-verhalten. Auch wer sich zurück-hält ver-hält sich: Er macht sein Gegenüber unsicher.

Also, liebe Mit-Zurückhaltende: Zeigen wir uns doch ein bisschen mehr, damit die anderen wissen, woran sie mit uns sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26537
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