SWR Kultur Wort zum Tag

SWR Kultur Wort zum Tag

- dass Barmherzigkeit verändert

Unser Rabbi muss schon ein ganz besonderer Rabbi sein. So mutmaßen die Mitglieder seiner Gemeinde in einer alten jüdischen Erzählung. Denn es heißt, der Rabbi sei besonderes fromm und erhebe sich sogar jeden Morgen beim Gebet in den Himmel. Darüber kann ein kühl und nüchtern handelnder Gelehrter nur müde lächeln. Aber das Gerücht beschäftigt ihn und so beschließt er sich in aller Frühe auf die Lauer zu legen um den Rabbi zu beobachten. Das macht er auch und sieht, wie der Rabbi kurz nach Sonnenaufgang sein Haus verlässt, allerdings verkleidet. Als einfacher Holzknecht. Der Gelehrte folgt ihm unauffällig. Der Weg führt den Rabbi in einen Wald.An einer Lichtung gibt es eine Reihe dürre und vertrocknete Bäume. Er fällt  einen von ihnen, haut ihn mit einem Beil in kleine Stücke und macht sich mit ihnen auf zu dem kleinen Haus einer einsamen, kranken und verarmten Frau. Durch das Fenster sieht der Gelehrte wie der Rabbi auf dem Boden kniet und mit dem Holz ein Feuer entzündet. Nachdenklich kehrt der kluge Mann ins Dorf zurück. Dort bestürmen ihn die Leute, die nun wissen wollen, ob der Rabbi nun wirklich täglich in den Himmel aufsteige. Seine Antwort verblüfft sie. Ernst und ohne sein spöttisches Lächeln sagt der Gelehrte: „Er steigt noch viel höher als in den Himmel.“ Soweit die Erzählung. Unaufgeregt und ohne große Selbstdarstellung sich kümmern und das tun was einem möglich ist: das ist eine Weise barmherzig zu sein. Auf Augenhöhe. Nicht sich gnädig herablassen, nicht demütige Dankbarkeit erwarten, keine Hintergedanken an den möglichen eigenen Nutzen. Im Matthäusevangelium heißt es: „Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir herposaunen, wie es die Heuchler… tun, um von den Leuten gelobt zu werden. … Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut.“ Der Rabbi in der Geschichte handelt so und ist Gott näher als in irgendeiner vermuteten Verzückung. In ihrem Tagebuch fragt die französische Dichterin Marie Noel: „Auf welchen Baum muss man steigen, um den Himmel zu berühren? Für die Begegnung Gottes mit dem Menschen steigt der Mensch vergeblich. Gott steigt herab. Er steigt nicht viel tiefer zum Sünder als zum Gerechten.“ Darin liegt für mich die tiefste Motivation selbst barmherzig zu sein. Weil ich an einen Gott glaube, der ohne Ansehen der Person und egal wie krumm und schief manches am Einzelnen sein mag, sich jedem Menschen zuwendet. 
Woran glaubst Du? So fragt in diesen Tagen die Themenwoche der ARD. Ich glaube, dass Barmherzigkeit das Gegenmittel ist gegen Gefühlskälte und mitleidlose Arroganz. Ich glaube, dass uneitle Barmherzigkeit zum Christ-Sein gehört. Ich glaube, dass Barmherzigkeit ein Name Gottes ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=24376
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