SWR1 Begegnungen

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„Ohne tägliches Gebet könnte ich nicht leben“

Ich treffe Tim Kurzbach in seinem Büro. Seit Oktober 2015 ist er Oberbürgermeister der Stadt Solingen, als der Sozialdemokrat als Kandidat von SPD und Grünen die Wahl gewann. Soweit nichts Außergewöhnliches. Doch der neue Oberbürgermeister der 160 000 Einwohnerstadt Solingen ist schon ein etwas andere Typ Politiker als manch anderer. Für den knapp 38 Jahre alten Politiker sind Glaube, Religion und kirchliche Gemeinschaft der zentrale Dreh- und Angelpunkt in seinem Leben, sagt er – und überrascht mich gleich zu Beginn unseres Gesprächs mit einer steilen Aussage: 

Ich könnte ohne ein tägliches Gebet, einen Moment meines persönlichen Gesprächs mit Gott meiner persönlichen Reflektion könnte ich nicht leben und ich nehme mir auch immer bewusst Zeit dafür,das ist mir sehr wichtig und ich will Ihnen auch verraten, auch in meinem Amt als Oberbürgermeister, ich kann Ihnen beweisen, dass Beten sich lohnt. Denn wenn Sie hier in diesem Büro und gerade in der jetzigen Zeit, wo es gilt, verdammt schwere Entscheidungen zu treffen, wo es um das Thema Geflüchtete geht, dann sitzen Sie als Oberbürgermeister mit der Letztverantwortung schon oftmals hier völlig allein in diesem großen Büro, denn Sie sind derjenige, der die abschließende Entscheidung treffen muss, und wenn Sie dann hier so sitzen und wissen, in diesem Moment grade denken Leute an Dich und beten für dich , dann ist das ein Gefühl des Getragenseins, was es einem leichter macht, die Entscheidungen zu treffen und dieses Amt dann auch auszuüben. 

Tim Kurzbach ist in einer katholischen Mittelschichtfamilie im Solinger Stadtteil Ohligs aufgewachsen, der Vater Kraftfahrzeugmeister, die Mutter Hausfrau, zusammen mit Großeltern und Urgroßvater ein Vier-Generationenhaushalt. Vor allem die Großmutter sei wichtig gewesen für die Einführung in den Glauben erzählt er – mit allem was dazugehört. Auch der Gesang in einer Knabenschola: 

Das hat unglaublich viel Spaß gemacht, dass kann man sich fast nicht vorstellen, dass wir mit acht, neun, zehn Jahren sonntagsmorgens im Hochamt lateinische Choräle gesungen haben und das sogar noch gerne, es lag aber an einem tollen Chorleiter, der selber ein totales Talent hatte und der immer nach einer Stunde Chorprobe mit uns auch eine Stunde Fußball gespielt hat. 

Der studierte Sozialarbeiter hat nicht nur in der Politik Karriere gemacht, auch in der Kirche führte ihn sein Engagement über die Messdiener- und katholische Jugendverbandsarbeit schließlich 2014 an die Spitze des Diözesanrats im Erzbistum Köln. Was ihn schmerzt und umtreibt, ist das immer stärkere Verschwinden des Christlichen in der Gesellschaft, sagt er. Und erlebt es am eigenen Leib: 

Ich bin am Aschermittwoch selbstverständlich morgens zum Aschermittwochs-Gottesdienst und hab da mein Aschenkreuz bekommen… und natürlich hab ich das drangelassen, Sie glauben gar nicht wie viele Leute mich gefragt haben, hören Sie mal Herr Oberbürgermeister, Sie haben da irgendwas auf der Stirn, Dreck oder was ist da, ich sag, überlegen Sie doch mal, was für einen Tag haben wir heute  Mittwoch, ja das machts so n bisschen deutlich ja.. (lacht). 

„Von Europa bin ich enttäuscht!“

Der Oberbürgermeister der Stadt Solingen Tim Kurzbach  ist tiefgläubiger Christ und praktizierender Katholik. Die Botschaft des Evangeliums ist für ihn durchaus Grundlage seines politischen Handelns. Beispiel Flüchtlinge. 

Wenn ich gerade leidenschaftlich darum kämpfe, dass es bei der Frage der Unterbringung von Flüchtlingen eben nicht nur um Zahlen, um Kosten, um Sparen, um Effizienz geht, sondern dass die Würde des Menschen unverhandelbar ist und für uns auch kein Verhandlungsaspekt bedeutet, dann ist das für mich ne klare Botschaft der Gotteskindschaft, die das Fundament für mich da bildet. 

Da ist seine Position überaus klar: 

Wir dürfen den Pegidas und Legidas und Duigidas und wie die alle heißen die da schreien, über Marktplätze laufen und das christliche Abendland für sich vereinnahmen, wir dürfen denen keinen Fußbreit Boden überlassen die haben keine Ahnung vom Christlichen, denen müssen wir sagen gerade die Verheißung der Bergpredigt sagt ja, Gott liebt jeden Menschen, und wir haben dafür zu sorgen, dass jeder Mensch in seiner besonderen Lebenssituation diese Liebe Gottes auch spüren darf und wir diejenigen sind die Überbringerinnen und Überbringer diesen frohen Botschaft sein müssen. 

Dass Deutschland so viel Flüchtlinge aufgenommen hat und gesagt hat, wir schaffen das, ist für ihn auch Ausdruck christlicher Solidarität. 

Wenn ich aber auf Europa schaue, auch mein Ideal von Europa, dann muss ich Ihnen sagen, bin ich tief tief enttäuscht, ich frag mich welche Werte haben wir da gemeinsam noch, diese Debatte zu führen lohnt sich und ich wünschte mir dass Christinnen und Christen wieder aktiver in diese gesellschaftliche Debatte einsteigen würden. 

Dass Tim Kurzbach durch und durch in seiner Kirche zu Hause ist, merke ich von der ersten bis zur letzten Minute unserer Begegnung. Dass schließt für ihn aber Veränderungen keineswegs aus – auf den verschiedensten Ebenen: 

Eine rein priesterzentrierte Kirche wird dazu führen dass wir zum Beispiel in einer Stadt wie Solingen mit 160 000 Einwohnern demnächst zwei Pfarrer noch haben werden, die Aufgaben der Sonderseelsorge für Jugend für Krankenhäuser, für Ältere, für Behinderte ja komplett hinten anstellen müssen, das ist doch keine Lösung. 

Der Diözesanratsvorsitzende des Erzbistums Köln rät seiner Kirche zu mehr Ehrlichkeit und zu einem unvoreingenommenen Blick auf die Realität. 

Mal ehrlich, was würde denn in den Gemeinden passieren, wenn wir jetzt wirklich alle die aussortieren, die Geschieden und wiederverheiratet, sind, wie sähen unsere Gemeinden aus, wie würden wir denn überhaupt noch Personal zusammen kriegen in katholischen Altenheimen, Kindertagesstätten usw, das ist doch in weiten Teilen schlicht unehrlich was wir da machen und hat mit der Realität doch nichts mehr zu tun

Als Laie und politisch denkender Christ, der in seiner Kirche zu Hause ist und sie im Licht der Reich-Gottes-Botschaft mitgestalten will, fahre ich mit dem Eindruck nach Hause, im Rathaus von Solingen sitzt jemand im OB-Sessel, der ganz ähnlich tickt. Das ist wohltuend, beruhigend, macht Mut.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=21888
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