SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Normalerweise steigt man nicht auf Tische; schon gar nicht in der Schule. Im Film „Club der toten Dichter“ gilt diese Regel nicht. Der Film handelt von einem Lehrer, der seine Schüler auf das Leben vorbereiten will. Und dazu gehört für ihn, ab und zu den Blickwinkel zu verändern. Das eröffnet neue Einsichten und ungewohnte Erkenntnisse. So lässt er seine Schüler auf die Tische steigen, damit sie die Welt aus einer anderen Perspektive sehen lernen. Gewiss, eine ungewöhnliche Methode, die vor allem von seinen Kollegen kritisch beäugt wird. Aber so bringt er die Schüler dazu nicht bloß zu denken, was man für gewöhnlich denkt oder zu sagen, was man halt allgemein sagt. Sie sollen nicht unüberlegt nachplappern was andere ihnen vorsagen, sondern eigenständig sehen und urteilen.

Wenn ich höre, wie mancherorts über die zu uns strömenden Flüchtlinge geredet wird, z. B ,“die kommen doch nur, weil sie sich von uns versorgen lassen wollen „ oder „die passen doch gar nicht in unsere Kultur“ ,“die wollen doch nur unsere Gesellschaft unterwandern“ dann wünschte ich mir, es gäbe so etwas wie im Film, von dem ich gerade erzählt habe. Vielleicht müssten jetzt viele auf den Tisch steigen, vor allem die Politiker, um sich für eine andere Sicht stark zu machen. Es würde schon reichen, sich einmal tatsächlich in die Situation dessen zu versetzen über den man geurteilt und gesprochen hat. Über die Flüchtlinge aus Syrien zu reden ist das eine, mit ihnen zu reden, über alle Sprachbarrieren hinweg, ist etwas anderes. Ich denke an einen 12 jährigen der mit seinen Eltern aus der zerstörten Heimat flieht und nachts durch Alpträume aufgeschreckt wird. Sich in dessen Lage versetzen, die Welt mit dessen Augen zu sehen und sich für seine Not zu öffnen, das würde sicher manches Urteil vorsichtiger und nachdenklicher machen.

Gewiss steht die deutsche Gesellschaft vor ganz großen Herausforderungen und Anstrengungen um die vielen Flüchtlinge einigermaßen würdig aufnehmen zu können und ihnen eine menschenwürdige Perspektive zu eröffnen. Dass in dieser angespannten Situation auch Ängste und Unsicherheiten auf allen Seiten aufkommen wundert mich nicht. Aber was uns überhaupt nicht weiterbringt sind Parolen und Feindbilder, die den Eindruck erwecken, es kämen zu uns Ungeheuer und keine Menschen, es kämen  nur Diebe, die es auf unseren Wohlstand abgesehen haben. Und dann sehe ich im Fernsehen, dass bei Demonstrationen  die deutsche Fahne geschwenkt wird. Für die Demonstranten war sie ein Zeichen gegen die Fremden. Aber das sind auch die Farben meines Landes und für mich bedeuten sie, dass man offen und menschlich mit Fremdem umgeht. Zwischendurch sind auch  Kreuze zu sehen, weil man das christliche Abendland verteidigen will. Ich versuche diese Sorge zu verstehen, merke aber, dass gerade Jesus uns zumutet, anders zu denken und anders zu urteilen. In der Bibel heißt es“ ich war obdachlos und ihr habt mich aufgenommen“! und „ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben“. Jesus sagt das über sich selbst. Und dann erklärt er, wie er das meint: „was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan“, das ist ein einschneidender Wechsel der Perspektive. Mit diesen Worten wechselt Jesus die Seite. Er stellt sich auf eine andere Warte, um besser zu sehen, was da vor sich geht. und versetzt sich in die Situation eines Heimatlosen oder eines Hungernden, mehr noch, er macht dessen Schicksal zu seinem eigenen. Ob das die wissen, die mit dem Kreuz auf die Straße gehen und am liebsten hohe Zäume gegen die ankommenden Flüchtlinge errichten würden?

 Teil 2

In den heutigen Sonntagsgedanken spreche ich  über die Gefahr, andere Menschen falsch zu sehen und nicht angemessen zu behandeln Jesus von Nazareth hatte  dabei eine zutiefst menschliche Art. , Er hat sein Gegenüber vorsichtig und genau angeschaut. Wo immer möglich hat er darauf verzichtet, andere zu beurteilen. Was für ihn menschliches Zusammenleben schwierig macht sind nicht die kulturellen oder nationalen und religiösen Unterschiede zwischen den Menschen, sondern die Sehstörungen, die im anderen nicht mehr den Bruder oder die Schwester sehen können. Die Evangelien sind voller Geschichten, in denen erzählt wird, wie sehr Menschen mit Blindheit geschlagen sein können. Gemeint ist nicht nur die Blindheit an den Augen, die weit größere Not ist die Blindheit im Herzen.

Eindringlich weist Jesus darauf hin, wie oft wir nicht richtig sehen und dann auch nicht richtig über andere urteilen. “Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken vor deinem eigenen aber siehst du nicht “ Das sind Provozierende Worte, mit denen er uns aufrüttelt und uns die Augen öffnet. Wir können bei Jesus buchstäblich in eine Sehschule gehen und von ihm lernen, einander deutlicher, wahr zunehmen anstatt flüchtig und verzerrt. Am schlimmsten ist es, wenn wir den anderen gar übersehen. In seiner Sehschule lernen wir, die Welt und die Menschen in einer neuen Perspektive wahrzunehmen. Er weitet unseren Blick, damit wir nicht nur uns selber sehen, er lässt uns nicht nur die Fehler anderer sehen, sondern macht uns aufmerksam auf die Stärken, er sorgt dafür, dass wir die Menschen und die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Die Menschen um Jesus reiben sich die Augen. So etwas haben sie noch nie gesehen. Da stellt einer die Welt auf den Kopf. Wer unten ist, kommt nach oben, wer draußen ist, wird aufgenommen, wer am Ende ist, kann wieder von neuem beginnen.

Offenbar gibt es Leute, die sich um das Erbe des christlichen Abendlandes Sorgen machen. , Die müssen sich dann aber dafür einsetzen, dass diese Sichtweise von Jesus auf die Menschen sich durchsetzen kann. Denn bei Jesus sind nicht die unsere Nächsten, die in unserer Nähe sind, sondern die, die unsere Hilfe brauchen. Und diese fremden Nächsten soll ein Christ lieben. Gott sei Dank, sehen das heute viele Menschen, Christen wie Nichtchristen, auch so, und setzen sich mit allen Kräften für die Flüchtlinge ein. Gott sei Dank gibt es bei uns diese Solidarität. Ich glaube, das christliche Abendland wird nicht durch fremdenfeindliche Propaganda geschützt, sondern dadurch, dass wir die bei uns ankommenden Flüchtlinge aufnehmen und menschlich so behandeln, wie auch wir behandelt sein wollen. Wenn der 12 jährige Junge aus Syrien eine neue Perspektive für sein Leben bekommt und keine Angst mehr haben muss, zeigt sich, wie heilsam die Sehschule Jesu ist. Ich bin froh, dass sich viele bei uns von seiner Sichtweise bewegen lassen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=20768
weiterlesen...