SWR4 Abendgedanken BW

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Man muss eigentlich mit dem Älterwerden nicht zwangsläufig starr und unbeweglich werden, auch im Kopf und Herzen nicht. Man kann eine Menge tun um beweglich zu bleiben. Beim Bau von "seniorengerechten" Wohnungen wird deshalb zum Beispiel genau darauf geachtet: Dass man sich begegnet, sich vielleicht sogar mit verschiedenen Vorstellungen aneinander reibt, sich auseinandersetzen muss, um gemeinsame Lösungen zu finden.
Das ist sicher nicht immer bequem: Freunde erzählen von einem Nachbarn, der sei so ein richtiges Ekel. Alles störe ihn, jedes versehentliche Haustürschlagen, jedes laute Lachen der Enkelkinder. Kein Wunder, dass man jede Begegnung mit dem möglichst vermeidet, wenn er doch nur rumbruddelt.
Bequemer war es in der Wohnanlage, in der ich ein paar Jahre lang gelebt habe. Kurze Wege zum Müllschlucker; die Kehrwoche, Rasenmähen erledigte der Hausmeister; mit dem Auto fuhr ich von der Arbeit direkt in die Tiefgarage, mit dem Aufzug zur Wohnung, ohne jemandem zu begegnen, wenn ich das nicht wollte. Ärgerte sich einer über einen anderen, beschwerte er sich bei der Hausverwaltung, die das dann zu regeln hatte. Begegnung (natürlich auch unangenehme, konfliktträchtige) wurde so vermieden.
Aber, scheint mir: wer Begegnung vermeidet, wird eher starr und unbeweglich und fällt aus der Gemeinschaft heraus. Dagegen macht es lebendig, wenn man miteinander lebt. Das beschreibt schon der Kirchenvater Augustin: "Miteinander reden und lachen, sich gegenseitig Gefälligkeiten erweisen, zusammen schöne Bücher lesen, sich necken, dabei aber auch einander Achtung erweisen; mitunter sich auch streiten ohne Hass, so wie man es wohl einmal mit sich selbst tut; manchmal auch in den Meinungen auseinander gehen und damit die Eintracht würzen. Einander belehren und voneinander lernen. ... Sich äußern in Miene, Wort und tausend freundlichen Gesten und wie Zündstoff den Geist in Gemeinsamkeit entflammen, so dass aus den Vielen eine Einheit wird".
Natürlich zeichnet dieses Bild des Augustin mit weichen Farben und vielleicht ist in manchem der Wunsch der Vater des Gedankens. Die Wirklichkeit ist nicht immer so schön. Ich will's aber doch ernst nehmen: Anderen zu begegnen, hält beweglich. Sich wirklich auf andere einzulassen, kann mich vor dem Starrwerden schützen. Wenn seniorengerechte Wohnungen das ermöglichen, ist das sicher gut und sinnvoll. Wenn ich mit dem Älterwerden lerne, unterschiedliche Meinungen gelten zu lassen, dann bleibe ich lebendig. Unterschiede können einen bereichern und halten beweglich.
'Gemeinschaft' gibt es nur, wenn man sich begegnet. Zur Begegnung gehört auch der Konflikt. Aber diesen Preis scheint mir Begegnung wert zu sein. Denn ich will ja kein "unbeweglicher Alter" werden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=2059
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