SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Heute hätte meine Mutter Geburtstag, wenn sie nicht schon vor 42 Jahren gestorben wäre. Dennoch begehe ich ihren Geburtstag, denn ohne sie wäre ich nicht da. So simpel das klingt! Ich bin ihr immer noch dankbar. Natürlich habe ich mich als Jugendlicher mit ihr auch gestritten. Sie hat manches Mal die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, wenn ich als Theologiestudent mit den neuesten Gedanken von Hans Küng und anderen Lehrern nach Hause kam.

Mit den Jahren habe ich gespürt, wie prägend ihr Leben, auch das religiöse, für mich ist. Ich habe Respekt bekommen vor ihrem schlichten Glauben. Sie hatte auch eine erstaunliche Fähigkeit, die ich heute noch bewundere. Wenn etwas anders lief als gedacht, sagte sie: „Bua, woisch nia, wozu dehs guat isch!“ Wie oft schon habe ich in meinem Leben an diesen Satz gedacht: ‚Du weißt nie, wozu es gut ist‘. Das hat sie nicht bloß so daher gesagt. Sie hat es erlitten. Meine Mutter hatte, als sie die damalige Volksschule verließ, ein Superzeugnis. Gern wäre sie Lehrerin geworden, aber das Geld in ihrer Familie reichte nicht zum Studium.

‚Du weißt nie, wozu es gut ist‘.  Mir gibt dieser Satz Kraft, wenn ich mich in eine ungewollte Situation hinein finden und etwas Neues in ihr entdecken soll. Das geht nicht ohne Abschiedsschmerz. Aber es bereitet den Boden für die Freude am Leben.

Der Sonntag heute trägt in den Kirchen die Überschrift „Gaudete“. Das lateinische Wort meint „freuet euch“. Der Apostel Paulus hat es in einem Brief an die Gemeinde in Philippi geschrieben: „Freuet euch, denn der Herr ist nahe!“ Paulus lädt ein, dass wir uns für die Ankunft des Herrn vorbereiten. Advent bedeutet ja Ankunft.

Schon als Kind habe ich diese Zeit des Adventes sehr geliebt und eindrücklich erlebt. Das verdanke ich vor allem meiner Mutter. Ich denke an den Adventskranz mit seinen Kerzen, an die warme Stube am Abend – wir hatten damals noch keine Zentralheizung. Wir lasen dann eine Adventsgeschichte und sangen ein Adventslied. Wir hörten abends die Sendung „De adventu Domini“ im damaligen Süddeutschen Rundfunk und besuchten frühmorgens den Gottesdienst in der dunklen Kirche, die nur mit Kerzen erleuchtet war. Meine Mutter hat diese Zeit intensiv in unserer Familie gestaltet. Auch der Verzicht auf Süßigkeiten gehörte dazu. Nur der Nikolaustag machte eine Ausnahme! Nicht aber der Geburtstag meiner Mutter am heutigen Tag. Da wollte sie nur, dass ich ihr auf dem Klavier etwas vorspiele. 

Advent – Warten

Der Advent ist eine Zeit des Wartens! Das hat mir meine Mutter beigebracht. Deshalb hat sie auch erst 4 Tage vor Weihnachten Gutsle gebacken und sie anschließend versteckt, damit wir Kinder sie nicht finden. Erst am Heiligen Abend kamen sie nach dem Beten, Singen und der Weihnachtsgeschichte auf den Tisch, sehnsüchtig erwartet von uns Kindern. Heute bekomme ich sie überall bereits im Advent angeboten. Aber ich denke an meine Mutter und sage tapfer zu den verlockenden Zimtsternen und köstlichen Haselnussbrötchen: „Nein, danke! Erst an Weihnachten!“ Vielleicht ein bisschen kindlich, aber für mich ist der Advent nach wie vor eine Zeit des Wartens.

Heute weiß ich, wie wichtig Wartezeiten in meinem Leben sind. Ich nehme in solchen Zeiten mehr als sonst Anteil am Leben der Menschen, die auf etwas warten: Einer wartet im Krankenhaus, dass er  geheilt wird von seinem Leiden. Eine Bekannte von mir hat erfahren, dass ihr Tumor doch nicht gutartig ist, wie sie gehofft hat. Jetzt wartet sie, wie es weiter geht. Eine syrische Familie ist nach abenteuerlicher Flucht zu Land und zu Wasser bei uns gelandet. Wie wird sie sich hier in der Fremde fühlen? Ein Dorf auf der Schwäbischen Alb hat mit vielen Helferinnen und Helfern eine richtige Willkommensfeier für die Flüchtlinge inszeniert. Eine wunderbare adventlich-weihnachtliche Geste!

Der Advent will mich wach machen und die Sinne schärfen, damit ich wahrnehme, wo ein anderer Mensch auf mich wartet, meine Hilfe braucht oder einfach, dass ich für ihn da bin.  Das ist auch die Botschaft jenes Kindes, auf dessen Geburtstag der Advent vorbereitet. In seiner Geburt, in der Geburt Jesu wird etwas sichtbar, was jedem Menschen gut tut: dass Gott ihn bedingungslos liebt.

Jesus will genau so wenig am Geburtstag groß gefeiert werden wie meine Mutter es wollte. Aber wenn wir an Weihnachten seinen Geburtstag feiern, kann in uns etwas lebendig werden von der Art, wie er mit seinen Mitmenschen umging. Sie fühlten sich von ihm verstanden, auch wenn in ihrem Leben etwas schief gelaufen war. Er ermutigte sie neu anzufangen. Sein liebevoller Blick gab ihnen Kraft.

Darauf warten auch heute Menschen, vielleicht schon an der nächsten Ecke, wo ich ihnen nachher begegne. Vielleicht warten darauf auch jene Mädchen, die ihre Mitschülerin geprügelt, zu Boden geworfen und getreten haben, dabei die ganze Szene noch filmten. Wer hilft ihnen, sensibler zu werden für das Leid anderer, damit so etwas nicht nochmals passiert? Wer kann unsere Jugendlichen empfindsamer machen, dass sie nicht der Faszination von „Gewalt“ verfallen? Es gibt so viele Menschen, die darauf warten, eine helfende Hand zu spüren, ein offenes Ohr zu finden. Sie warten vielleicht schon lange. Sie warten auch auf uns.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18845
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