SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Der Begründer der neuzeitlichen Orthopädie, der Arzt Richard von Volkmann, war auch ein guter Seelenkenner. Mitten in einem Krieg schrieb er Märchen für seine Kinder .Eins davon erzählt von einem jungen Königspaar, das das erste Jahr seiner Ehe in ungetrübtem Liebesglück verbringt. Dann heißt es:
„Eines Tages stand der König früh mit dem falschen Bein zuerst aus dem
Bette aus und alles ging verkehrt. Es regnete den ganzen Tag; der Reichsapfel fiel hin und das kleine Kreuz, was oben darauf ist, brach ab; dann kam der Hofmaler und brachte die neue Karte vom Königreiche, und als der König sie besah, war das Land rot angestrichen statt blau, wie er befohlen; und endlich, die Königin hatte Kopfschmerzen. Da geschah es, dass das Ehepaar sich zum ersten Mal zankte. (…) Der König war brummig und die Königin schnippisch und behielt stets das letzte Wort.“ Die Szene endet mit heftigen gegenseitigen Vorwürfen und dann zieht sich jeder in seinen Schmollwinkel zurück: Dicke Luft statt Eheglück!

Nicht nur im Märchen kommt so etwas vor: Am Montagmorgen sitzt Herr X. mürrisch und wortkarg beim Frühstück. Er bemängelt, dass schon wieder das Salz fehlt, und schnauzt die Tochter an, weil sie mit dem Walkman in den Ohren bei Tisch erscheint. Dass seine Frau heute besonders hübsch angezogen ist, bemerkt er nicht. „ Lasst mich in Ruhe, ich hab’s eilig. Tschüss!“, murmelt er undeutlich und verschwindet Richtung Wohnungstür, um zur Arbeit zu fahren. – Ist auch er mit dem linken Bein aufgestanden?
Ich glaube, es hängt von unserer Einstellung ab, wie wir einen Tag erleben. Was sich ständig wiederholt, ermüdet: der immer gleiche Ablauf vom Morgen bis zum Abend, die immer gleichen Menschen um uns herum mit ihren Gewohnheiten und Schwächen, die uns – je länger, je mehr – auf die Nerven gehen. Wir sind damit überfordert, eine Situation, einen Menschen jedes Mal wie neu zu sehen. Unsere Seele wird stumpf. Durch diese trübe Linse gesehen, verliert die Welt ihre Frische und erscheint uns grau in grau. Anstatt die liebenswerten Eigenschaften unserer Mitmenschen wahrzunehmen, sehen wir vor allem ihre Fehler und Schwächen. In der Geschichte vom jungen Königspaar hört sich das so an: „Du kannst ja nicht einmal das Brummeisen spielen,“ wirft sie ihrem Mann vor, und er giftet zurück: „Und du kannst nicht einmal Pfefferkuchen backen!“
Lächerlich - solch klein karierter Streit, aber in vielen Variationen tägliche Realität.

(Musik)


In den „Sonntagsgedanken“ geht es um den Alltag, also um die Phasen unseres Lebens, in denen alles mehr oder weniger in gewohnten Geleisen verläuft. Zwar sind wir in Ausnahmesituationen zu erstaunlichen Leistungen fähig. Doch auch den Alltag gut zu bestehen, das erfordert wirkliche Lebenskunst. Denker und Dichter haben kluge Sprüche dazu geliefert, etwa der Franzose Anouilh: „Das Leben besteht aus vielen kleinen Münzen, und wer sie aufhebt, hat ein Vermögen.“ Oder Carl Zuckmayer: „Die eine Hälfte des Lebens ist Glück, die andere Disziplin.“
Der christliche Glaube legt einen tieferen Grund: Gott hat mir meine Zeit gegeben, eine Strecke zwischen Geburt und Tod, die nur er kennt. Sie ist kostbar, einmalig, immer neu. Ich habe nichts anderes als diese Zeit, um der zu werden, der ich sein könnte. Aus kleinsten Einheiten setzt sich mein Leben zusammen. Wie ich meine Persönlichkeit entwickele, in welchen Beziehungen ich lebe, – alles wächst und verwirklicht sich in dieser Spanne - und das nicht nur an den Höhepunkten meines Lebens, sondern gerade auch im täglichen Einerlei. Eine gute Ehe kann nicht einfach gekauft oder aus dem Zauberhut gezogen werden, sondern sie baut sich aus unendlich vielen kleinen Elementen auf. Überall gilt: Mehr Alltag als Feiertag – wie kostbar sind also die Bausteine, die mir Gott dazu in die Hand gegeben hat!

Für den Theologen Karl Rahner ist es gerade der Alltag, in dem der Christ sich zu bewähren hat. Was er in Liebe tut oder erträgt, vergeht nicht, sondern bleibt vor Gott, wird sozusagen hinübergerettet in die Ewigkeit. Wir erfahren es täglich: Wo wir lieben, wird auch der Alltag sinnvoll und gut; wo keine Liebe ist, macht das schönste Fest, der tollste Urlaub nicht glücklich.

„Darum“, sagt Karl Rahner, soll man „sonntäglich gut sein zu den Kleinigkeiten (…) des Alltags. Sie reizen nur, wenn sie gereizt empfangen werden, (…) sie machen uns nur alltäglich und banal, wenn wir sie falsch behandeln.“ Für ihn ist „das Kleine (…) die Verheißung des Großen und die Zeit (ist) das Werden der Ewigkeit.“
Solche Worte mögen manchem vorkommen wie „eine Schuhnummer zu groß“ für sein „kleines“ Leben. Doch Gottes Maßstäbe - wer weiß - sind womöglich ganz anders.
Ernst Ginsberg, ein bekannter Schauspieler, wurde mitten in seiner Karriere von einer unheilbaren Lähmung befallen. Den sicheren Tod vor Augen, schleppten sich ihm die verbleibenden Tage lange und qualvoll dahin.
Er verfasste das folgende schlichte Gebet, das man auch ein „Gebet für den Alltag“ nennen könnte:

„Ich bitte dich, Herr, um die große Kraft, diesen kleinen Tag zu bestehen, um auf dem großen Wege zu dir einen kleinen Schritt weiterzugehen.“


Literatur:
1. Richard von Volkmann- Leander, Träumereien an französischen Kaminen.
Mitteldeutscher Verlag 2006. - Das Märchen heißt: „Von dem König, der kein Brummeisen spielen und der Königin, die keine Pfeffernüsse backen konnte.“ – Volkmann-Leander schrieb diese Geschichten während seiner Zeit als Militärarzt im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71.
2. Karl Rahner, Alltägliche Dinge. Benziger Verlag Einsiedeln-Zürich-Köln 1964 https://www.kirche-im-swr.de/?m=1864
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