SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Eine Gruppe junger Strafgefangener trifft sich zu einem Gespräch mit ihrem Seelsorger. Heute geht es um das Thema: mein größter Wunsch an das Leben. Die Jugendlichen haben sich vorbereitet und  bringen zu der Runde große Plakate mit, auf denen sie ihre Wunschbilder aufgeklebt haben: Autos, schicke Frauen, Palmenstrand und Sonne, Essen und Trinken, coole Klamotten und vieles mehr. Auf einem Plakat ist nur das Bild einer Brille geklebt -sonst nichts. Auf die Frage was das zu bedeuten hat, sagt einer der Jugendlichen ganz spontan: „ich möchte endlich richtig gesehen werden“

Vielleicht musste er oft schon erleben, wie andere ihn verächtlich und vorwurfsvoll angeschaut oder sogar einfach nur weggeschaut haben. Es kann auch sein, dass andere nur noch seine Tat und seine Schuld gesehen haben, aber nicht mehr den Menschen. Möglich, dass man zu sehr auf sein Vergehen fixiert war und ihm keine Veränderung und Besserung zugetraut hat. Und wer weiß, wie oft er schon wegen seines Aussehens von vorneherein in eine bestimmte Ecke gestellt wurde. 

Das Bild der Brille steht für seinen größten Wunsch, von anderen Menschen richtig wahrgenommen zu werden. In dem jungen Mann lebt wie in jedem anderen Menschen eine tiefe Sehnsucht akzeptiert und verstanden zu werden, Willkommen zu sein und als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Ich weiß es aus eigener Lebenserfahrung : wir leben nicht nur von materiellen Dingen, viel mehr brauchen wir von Anfang  an den gütigen Blick, der uns anschaut und uns Vertrauen und Ermutigung einflößt und der uns erfahren lässt, wie sehr wir respektiert sind.

Die Brille erinnert aber auch an Sehstörungen und Sichtbehinderungen, an die vielen Augenblicke, in denen wir andere Menschen verletzt und allein gelassen haben, in denen wir nicht richtig hingeschaut und infolge dessen auch falsch geurteilt haben. Sehfehler, die uns tagtäglich unterlaufen und zu vielen Missverständnissen und Verzerrungen führen .Die größte Fehlerquell dabei ist unsere Oberflächlichkeit. Ein einziger Blick, ein erster Eindruck und dann ein schnelles Urteil, besser gesagt, ein Vorurteil. Man spart  sich die Mühe, richtig wahr zu nehmen, gegebenenfalls auch nach zu fragen und ist nur schwer zu bewegen, fixe Bilder und Urteile zu verändern. Wir geben es ungern zu, aber wir sind leider oft blind und sehbehindert und das liegt weniger an unseren Augen als an einer inneren Haltung.

Kein Wunder ,dass in der Bibel viel von blinden Menschen die Rede ist. Gemeint ist damit nicht ein medizinischer Befund sondern  es wird damit beschrieben, wie tief verkrümmt ein Mensch sein kann, wie hartherzig. Aber dann geschieht das Wunderbare: unter den weitsichtigen Augen Jesu gehen Blinden die Augen auf, finden Menschen  den rechten Blick füreinander.

 Musik 

 Menschen wollen gesehen werden, darüber spreche ich heute in den Sonntagsgedanken.

Ein jüdischer Schriftsteller betont, dass es erst dann eine wirkliche Veränderung  unserer Zustände geben wird, wenn der Mensch so wie er lebt, wieder in Blick kommt. Er beobachtet eine Gruppe von Touristen mit ihrem Fremdenführer, der ortskundig und kompetent, die Steine eines alten romanischen Bogens erläutert, Und alle Blicke richten sich auf ein altes Gemäuer. Den Mann aber, der davor sitzt und sich ausruht,beachten sie nicht. 

Es wird erst dann eine wirkliche Veränderung geben wenn der Mensch wieder gesehen und in die Mitte kommt. So wichtig die antiken Steine auch sein mögen, ein Mensch, der für andere sorgt und sich abmüht, ist wichtiger. So alltäglich es auch scheinen mag, der Mann mit seinen Körben ist wirklich eine Sehenswürdigkeit. So stellt diese kleine Geschichte unsere Sichtweise auf den Kopf und öffnet uns die Augen für den konkreten Menschen, der uns gegenüber ist. Nicht nur der im Scheinwerferlicht will gesehen werden, sondern auch der auf der Schattenseite ,nicht nur mein Bekannter sondern auch der Fremde, nicht nur der, der meinen Vorstellungen entspricht, sondern auch der , der aus dem Rahmen fällt. Gesehen werden will jeder. 

Ich meine, den anderen richtig sehen lernen hat ganz viel mit Toleranz zu tun. Das ist mehr, als einen anderen aushalten oder ertragen was sich nicht ändern lässt. Für mich ist Toleranz die wohlwollende Sicht auf jeden Menschen, egal wie er aussieht, wo er herkommt, wie er sexuell orientiert ist oder was er glaubt. Toleranz ist die grundsätzliche Zustimmung, dass der andere genauso angesehen sein will wie ich selbst. Toleranz hat nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. “Soll doch jeder nach seiner Facon selig werden!“ –auch so kann man sein Desinteresse am anderen ausdrücken und deutlich machen, dass dieser im Grunde einem egal ist. Ich meine, eine solche Haltung, die so scheinbar großzügig daher kommt, ist auch eine Form der Blindheit.

Es bleibt ein spannender Weg. Weder jemand links liegen zu lassen, noch den anderen von vorneherein in einen festen Rahmen zu pressen. Tolerante Menschen werden versuchen, den anderen gerade in seinem Anderssein zu verstehen und zu respektieren. Aber das geht nur, wenn man sich auf Augenhöhe begegnet, und man den anderen so sieht, wie man selbst gesehen sein will. 

Eine Woche lang wird jetzt in der ARD das Thema Toleranz in den Blick gerückt und beleuchtet. Eine Woche lang könnten wir daraus eine konkrete Sehübung machen. Ich schaue hin, ohne zu urteilen; ich sehe einen Menschen so lange an, bis ich tatsächlich begreife, was er mir mitteilen will: Dass er nämlich endlich richtig gesehen werden will. So wie der junge Mann im Gefängnis.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=18612
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