SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Nichts scheint ihn aus der Ruhe zu bringen. Seit einigen Jahren hängt in der großen Halle des Züricher Hauptbahnhofs ein bunter und kraftvoller Engel, den die französische Künstlerin Niki de Saint Phalle geschaffen hat „Engel der Reisenden" heißt dieses Kunstwerk, das sicher von vielen in ihrem Reisstress gar nicht wahrgenommen wird.

Der Engel bringt Farbe und Abwechslung in die graue Bahnhofshalle und er strahlt eine wohltuende Gelassenheit aus, als hätte er alle Zeit der Welt. Und während die Lautsprecher die nächsten Anschlüsse durchgeben oder zum Einsteigen auffordern, bleibt er oben ganz still und hat doch für alle eine Botschaft. Über den Reisenden schwebt ein Engel, eine Verheißung, eine Sehnsucht, eine Hoffnung, dass alles gut gehen möge. Seine Flügel haben genügend Platz, um darunter all die zu bergen, die sorgenvoll und bekümmert unterwegs sind. Und ebenso scheint er voller Energie zu sein, die auch noch für jene reicht, die auf ihrem Weg erschöpft sind. Der Engel weiß wohin die Reise geht und er geht mit jedem mit, egal wohin.
Lange Zeit stand unterhalb dieses Engels täglich oft stundenlang eine Frau, die versuchte mit ihren Möglichkeiten die Botschaft des Engels von oben zu übersetzen. Sie hat nichts anderes getan, als die Vorbeikommenden gesegnet. Meistens ganz beiläufig -ohne große Gesten. Unauffällig aber mit großer Verlässlichkeit. Viele haben sie gekannt und sich ihr anvertraut. Für viele ist sie einfach zum Engel geworden.
Engel müssen nicht immer Wesen mit Flügel sein, wie sie gewöhnlich dargestellt werden. Oft sind es Menschen am Weg. Menschen, die einen trösten auf deren Wort man sich verlassen kann, die da sind, wenn man sie braucht und die mit einem gehen, auch wenn es schwer ist. Menschen, die mit sprichwörtlicher Engelsgeduld zu einem halten, die einem den Rücken stärken und Mut machen, solche, auf deren Wort man sich wirklich verlassen kann. Zugegeben, manchmal können sie auch unbequem sein. Sie riskieren mitunter ein deutliches und ehrliches Wort.

Es ist ein Segen, wenn man von solchen menschlichen Engeln begleitet wird. Nicht umsonst sagen wir, sie schickt der Himmel. Tatsächlich wissen wir uns durch sie gesegnet, brauchen nicht an uns selber glauben, dürfen ihnen vertrauen und dabei erahnen, dass wir trotz unserer kurzen Arme und unserer begrenzten Kräfte von guten Mächten getragen und geborgen sind.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Diese tröstlichen Worte gehören zu einem bekannten und beliebten Gedicht, das Dietrich Bonhoeffer verfasst hat, wenige Monate vor seinem gewaltsamen Tod durch die Nazis. In seinem letzten Brief an seine Verlobte Maria von Wedemeyer legt Bonhoeffer ihr dieses Gedicht bei und schreibt:
„Meine liebste Maria!
Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.“
Bonhoeffer fühlt sich trotz der bedrohlichen Situation nicht im Stich gelassen. Er weiß um die Angehörigen und die Freunde, die an ihn denken, er erinnert sich an viele Begegnungen und Gespräche, an Musikstücke, Bücher, Bibelworte ,an so vieles, was ihm jetzt in der Gefangenschaft wieder ganz nahe ist. Und so schreibt er weiter:
"Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat. Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heißt: „zweie die mich decken, zweie, die mich wecken“ so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder.“

Die guten Mächte – das sind für Bonhoeffer die Engel die ihm nicht als gespenstische Wesen erscheinen sondern ganz handfest als seine Braut Maria, als seine Eltern, als seine Freunde, die ihm immer ganz gegenwärtig sind. Und seine Aufzählung der Engel, geht weiter: „Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher“. – Das alles erlebt Bonhoeffer als gute Mächte, als Engel, als kleine Form der Gegenwart Gottes. Und diese Engel, da ist sich Bonhoeffer sicher, brauchen Erwachsene Menschen nicht weniger als Kinder.

Bonhoeffers tröstende Worte sind selber zu einem menschlichen Engel, geworden. Sei es an der Schwelle zum neuen Jahr, sei es bei einem schmerzlichen Abschied, sei es in einer schlaflosen Nacht- diese einfachen Worte haben die Kraft eines Engels, der da ist und die Menschen segnet. Sie sprechen nicht von einer heilen Welt und einem angstfreien Leben, aber von einer Macht, auf die ich mich wirklich verlassen kann.

 
https://www.kirche-im-swr.de/?m=16644
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