Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Wo seht ihr euch, wenn ihr dreißig Jahre alt seid?", hat der Rektor die Abiturienten an unserer Schule gefragt. Ihre Antworten wurden dann bei der Abi-Feier präsentiert. Eine Antwort hat mich besonders beeindruckt: „Mit dreißig", hat ein Abiturient geschrieben, „will ich meine wichtigsten Lebensziele erreicht haben". 

Ob er es schafft? Klar, als Abiturient ist man besonders optimistisch und hoffnungsvoll. Und für eine 18-Jährigen ist dreißig ganz weit weg. Aber ich denke, diesen Anspruch, irgendwann mal seine Ziele erreicht zu haben, es irgendwann mal geschafft zu haben, irgendwann einmal fertig zu sein - das steckt in vielen Menschen drin. Aber wann ist das? Mit dreißig? Mit vierzig? - Und was kommt danach? Wird es dann langweilig, weil ja schon alles erreicht ist? Oder was ist, wenn ich es bis dahin nicht geschafft habe? Habe ich dann versagt? 

Möglichst zur Lebensmitte muss ich meine Ziele erreicht haben - Ich finde dieser Gedanke setzt einen ganz schön unter Druck. Mit gefällt da ein Vergleich aus der Natur besser: Mit dem Leben ist es wie mit einem Apfel. Der ist auch nicht in der Mitte zwischen Blüte und Ernte reif - also etwa jetzt, Ende Juli. Sondern erst ganz am Ende im Oktober. Und so lange hat er Zeit, sich zu entwickeln und zu reifen. 

Ich denke, genauso ist das mit uns Menschen auch. Ich muss nicht bis zur Lebensmitte fertig sein und wenn ich es bis dahin nicht geschafft habe, ist es halt zu spät. Nein, ich habe bis zum Ende meines Lebens Zeit, Ziele zu erreichen, mich zu entwickeln, zu reifen und Ziele zu erreichen. Es ist nie zu spät. 

Auch der amerikanische Psychologe Erik H. Erikson hat das so gesehen. Seine Forschungen haben gezeigt: Jede Phase im Leben eines Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter hinein hat ihre eigenen Herausforderungen und Ziele. Die Entwicklung eines Menschen ist nie abgeschlossen, sie ist ein lebenslanger Prozess. 

Als Christ glaube ich, dass dieser Prozess sogar über den Tod hinaus geht. Deshalb wird bei einer Trauerfeier gebetet, Gott soll das Leben des Verstorbenen „vollenden". Denn auch wenn bis an mein Lebensende vieles möglich ist, werde ich doch manche Ziele verfehlen und manche Herausforderungen nicht meistern. Manches in meinem Leben wird unvollendet bleiben. Da tröstet mich die Hoffnung: Gott wird sich einmal darum kümmern, dass mein Leben eine Runde Sache wird. Gott macht ganz, was unfertig geblieben ist - in einem neuen Leben, das nach diesem Leben kommt. Mit dieser Hoffnung kann ich meine Lebensziele auch ein bisschen gelassener angehen. 

Aber vielleicht muss man dazu erst ein Bisschen älter sein als 18.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15757
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