SWR4 Sonntagsgedanken RP

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Teil 1. Entlastung

Heute mache ich mir viele Hoffnungen. Das neue Jahr beginnt und es liegt offen vor mir. Da kann ich mir zurecht noch vieles erhoffen. Ich hoffe, dass es im Beruf gut weitergeht. Bei unseren Kindern tut sich in der Schule einiges. Ich hoffe, dass sie gut durchkommen. Bei meinen Eltern stehen runde Geburtstage an. Ich hoffe, dass wir noch viele Jahre miteinander feiern können.

Hoffnungen wie diese machen sich viele. Dass man selbst gesund bleibt - und alle, die einem ans Herz gewachsen sind. Dass sich Pläne erfüllen.

Hoffnungen tun gut. Aber das neue Jahr lässt mich auch etwas beklommen sein, macht Angst. Vieles wird passieren, das ich nicht erhoffe, nicht erwarte, nicht kenne.

Aber ganz egal, ob ich Hoffnungen habe oder Angst: Dieses Jahr, jeder Tag, jede Stunde, jede Minute wird auf mich zukommen. Ganz egal, was ich erhoffe oder befürchte. Ich brauche gar nichts zu tun. Ich kann gar nichts daran ändern. Neues kommt einfach so - ohne dass ich gefragt werde, ohne meine Zustimmung, ohne meine Leistung.

Das entlastet mich, befreit mich. Ich muss nicht alles selbst machen. Vieles ist möglich - und wird mir geschenkt. Sicher: Vieles muss ich auch im neuen Jahr selbst regeln und auf den Weg bringe. Muss einkaufen, die Steuererklärung machen und an Geburtstage denken. Da finde ich es entlastend zu wissen: Der Tag heute geht zu Ende - und es kommt sicher der neue Tag. Egal wie viel ich geschafft, geleistet, vollbracht habe.

Von der Entlastung des Menschen spricht auch die biblische Schöpfungsgeschichte. Ihr geht es auch um den Neuanfang, erzählt von der Geburtsgeschichte der Welt. In poetischen Worten beschreibt ein Dichter, dass alles, was ist, Sonne, Mond, Sterne, Wasser und Erde, Licht und Schatten, von Gott gewollt ist. Gott sagt ja, zu allem, was es gibt. Und mittendrin: Der Mensch. Auch er kommt zur Welt - ist angenommen, darf sein. Aber Gott nimmt diesen Menschen auch direkt in seinen Dienst. Gibt ihm Aufgaben. Der Mensch soll die Schöpfung pflegen, soll sie bewahren und für sie sorgen. Ein weitreichender Auftrag. Ein Auftrag, der belastet. Muss der Mensch also doch alles erledigen und machen?

Zum Glück geht die Geburtsgeschichte der Welt weiter. Denn am letzten Tag schafft Gott etwas völlig Neues: Die Ruhe, die Pause, die Muße. Er schafft einen Tag, an dem nichts geschafft werden muss, der nichts Neues braucht. Gott schafft einen Tag, der einfach nur da ist. So wie der Mensch an  diesem Tag einfach nur da sein darf. Ein großes Atemholen: die Pause, den Sabbat, die Ruhe. Das ist der eigentliche Höhepunkt der Schöpfung: Dass alles ruhen darf, dass nichts getan werden muss. Und dass der Mensch aus dieser Ruhe neue Hoffnung schöpfen kann.

 Teil 2. Geburt

Eigentlich merkwürdig. Da feiern wir Geburtstag - und keiner geht hin. Es gibt keine Einladung, es gibt keinen Gastgeber, es gibt keine Geschenke. Kein Wunder: Das neue Jahr feiert Geburtstag, wem soll ich da gratulieren?

Ich glaube, wir können uns gratulieren. Das neue Jahr beginnt, und wir sind da. Wir leben. Aber wenn ich weiß, dass ich lebe, dass ich den Anfang des neuen Jahres erleben darf, dann weiß ich doch auch, dass viele Menschen dieses Jahr nicht erleben dürfen. Der 1. Januar zeigt mir wieder einmal deutlich: Geburt und Tod liegen nahe beieinander, Anfang und Ende gehören zusammen.

Das kann mich traurig machen. Dass in jedem Anfang schon etwas vom Ende steckt. Es kann mich aber auch ermutigen. Für ein geburtliches Leben, ein Leben, das immer wieder einen Neuanfang setzt.

Von solchen Geburtsgeschichten, von Neuanfänge und Aufbrüchen, erzählt auch mein Glaube. Ganz am Anfang der Bibel, der Genesis, wird erzählt, wie der Mensch auf die Welt kommt. Er entsteht aus Dreck und Lehm. Aus Erde. Gott ist ein kreativer Künstler, ein Töpfer, der aus einem unscheinbaren Ausgangsmaterial ein Wunder vollbringt. Einen lebendigen Menschen.

Diese Geschichte ist eine Sinngeschichte. Über die Evolution des Menschen will sie keine Auskunft geben. Sie gibt Auskunft über den Sinn des Menschen. Darüber, dass Gott dem Menschen nahe ist, und darüber, was der Mensch in den Augen Gottes ist. Gott merkt sehr schnelle, dass der Mensch nicht allein sein soll. Und so sucht ihm der phantasievolle Gott eine passende Gesellschaft. Als erstes schafft er nach dem Menschen die Tiere. Aber schon bald steht fest: Eine wirkliche Hilfe, eine Unterstützung, einen Partner fürs Leben, der sieht anders aus. Und so schafft Gott einen zweiten Menschen, bringt nochmals einen Menschen zur Welt.

Wenn wir Geburtstag feiern, dann feiern wir einen Menschen. Wir lassen ihn hochleben, bringen Geschenke. Das ist schön und wichtig. Der einzelne Mensch ist unendlich viel wert. Die Schöpfungserzählung weist auf einen zweiten wichtigen Aspekt hin: Dass Menschen andere Menschen brauchen. Dass Menschen alleine kaum leben und überleben können. Bei der Geburt meiner Kinder habe ich das selbst erleben dürfen. Wie angewiesen und hilflos ein neugeborenes Kind ist - wie sehr es andere Menschen braucht. Und wie sehr ich durch ein Kind meine Welt neu sehen kann.

Geburtstag heißt, einen Menschen als Mensch unter Menschen zu feiern. Zu feiern, dass Menschen miteinander verbunden sind. Das können wir gut heute feiern, wenn das Jahr Geburtstag hat.

 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=14407
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