Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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Ich nehme einen Schluck aus der Tasse - und bin entsetzt. Wie schmeckt der Tee denn heute, richtig eklig! Erst beim Blick in die Tasse merke ich: es ist Kaffee. Ich war so auf den Geschmack von Tee eingestellt, dass ich es nicht erkannt habe, obwohl ich auch gern Kaffee trinke und sehr wohl weiß, wie er schmeckt. Beim zweiten Schluck wusste ich schon, dass es Kaffee ist, und er hat gut geschmeckt, nach Kaffee eben. 
Was ich erwarte bestimmt das, was ich wahrnehme. Wenn ich einen Menschen sehe, dann sagt mir der erste Blick, was ich mit ihm verbinde, wie ich ihn finde und was ich von ihm erwarte. Und wenn er dann anders ist oder sich anders verhält, dann bin ich erst mal irritiert. 
Die Erwartung hängt auch tonnenschwer an diesen Wochen vor Weihnachten und natürlich am Fest selbst. Und bei den meisten verläuft die real existierende Adventszeit dann doch anders, auch bei mir. Die einen werden dann unzufrieden mit sich, andere setzen sich noch mehr unter Stress, und manche denken melancholisch oder sentimental zurück an früher, als alles noch schöner war, auch Advent  und Weihnachten. 
Man stellt sich etwas genau vor und dann kommt es doch ganz anders, das ist eine uralte Erfahrung. Und dass das in der Zeit um Weihnachten besonders deutlich wird, war auch immer schon so. Sogar schon, als Jesus geboren wurde. Auch damals hatte man etwas anderes erwartet, eine charismatische Führergestalt, die das Volk um sich sammelt und es mit der römischen Besatzungsmacht aufnimmt. Nicht dieses Kind kleiner Leute, das später Gewaltverzicht und Feindesliebe predigen wird und sich selbst ans Kreuz schlagen lässt anstatt den Aufstand anzuführen. 
Es ist eine Erfahrung, die sich durchzieht durch die Geschichte - auch durch meine eigene: Gott handelt immer wieder anders, als wir es erwarten. Wenn ich daran denke, könnte ich die Adventszeit und auch Weihnachten doch eigentlich ganz entspannt erleben und einfach mal neugierig sein, wie Gott mir diesmal entgegenkommt, in welchen Alltäglichkeiten und in welchen Überraschungen. Und mich nicht wundern, wenn manches anders läuft als ich es gewohnt bin.

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