Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Die Mehrheit der Menschen beklagt sich über die Missgunst der Natur, dass wir für eine nur kurze Zeitspanne geboren werden" (de brevitate vitae) - kluge Worte wie diese hat der Philosoph Seneca schon immer gefunden. Er lebte vor 2000 Jahren in Rom. Und wer möchte dem nicht zustimmen: Wie rasch, mitunter stürmisch diese uns gegebene Frist abläuft. Oft merken wir erst unter dem Druck der letzten Notwendigkeit, dass das Leben vergangen ist, dass es dahin gegangen ist, uns vielleicht sogar im Stich gelassen hat. Ist das wirklich so? -
Seneca sieht das anders, stellt aber mit einem pessimistischen Unterton fest: „Wir haben kein kurzes Leben empfangen, sondern es dazu gemacht, es für nichts Gutes aufgewendet und viel davon vergeudet." Und er fährt fort: „Wir sind nicht arm am Leben, sondern gehen damit verschwenderisch um." 
Ich möchte diese nachdenklichen Worte von Seneca positiv wenden und Mut machen, das „Jetzt" ernst zu nehmen, das „Heute" wahrzunehmen. Denn: die besten Gelegenheiten des Lebens liegen nicht im Gestern, die garantiert auch nicht das Morgen. Diese besten Gelegenheiten warten „jetzt" und „heute" auf mich. Sie sind mir geschenkt. Sie sind die einzige Zeit, die mir wirklich gehört. So will ich in dem, was ich gerade tue, ganz bei der Sache sein. Ich möchte die vielen kleinen Augenblicke entdecken, mich an kleinen Dingen freuen können und etwas Glück verspüren. Ich möchte es bemerken, wo ich Gutes tun kann. Das „Jetzt" und „Heute" ernst nehmen heißt für mich auch: Meine Stärken zu nutzen. Meine Fähigkeiten einzubringen. Aber auch meine Grenzen zu kennen. Meine Endlichkeit zu akzeptieren, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Und dass so manches unerfüllt bleibt, was ich mir vielleicht vorgenommen habe. Aber ich sehne mich danach, dass es anders wäre. Mich mit meiner Endlichkeit auseinandersetzen - das hat für mich mit dieser Sehnsucht zu tun. Eine Sehnsucht nach Leben und Liebe, nach Unverfälschtem und Ursprünglichem. Eine Sehnsucht, die irgendwie nicht gestillt wird. Ich möchte mich in all der ungestillten Sehnsucht mit Gott einlassen. Und ihm vertrauen, dass er sie einmal für immer stillt - in seiner neuen Welt.

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