SWR2 Wort zum Sonntag

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 Wer alt wird, hat einen großen Schatz von Erfahrungen und Erinnerungen angesammelt.
Wenn ich mich erinnere, gehe ich in Orte, in denen ich gelebt, die ich bereist habe, Wohnungen, die einmal mein Zuhause waren. Ich begegne Menschen, die mich eine Wegstrecke begleitet, die mich geprägt haben. Ich erinnere mich an Gelesenes, an Gehörtes, Gesehenes.
Ich meine, der Reichtum von uns älteren Menschen liegt in unseren Erfahrungen, in den Bildern von Gesichtern, von Orten, die wir besucht haben, - aber auch in Romanfiguren, in Versen von Gedichten, in Liedern und Geschichten aus der Bibel.
Das sind Lebenstexte, die einen Menschen begleiten können. Solche Lebenstexte helfen leben. Denn auch sie enthalten Erfahrungen. Für den einen ist es ein Gedicht, irgendwann einmal auswendig gelernt, für den anderen ein Psalm, für den dritten eine biblische Geschichte.
Norberto Bobbio, ein Philosoph, sagt: „Außer den Gefühlen, die du geweckt hast, den Gedanken, die du gedacht hast, den Taten, die du vollbracht hast, sind die Erinnerungen, die du verwahrt und nicht in dir gelöscht hast, deine Reichtümer und du bist nun ihr einziger Wächter .In der Erinnerung findest du trotz der vielen Jahre, die du gelebt, trotz der unzähligen Ereignisse, die du erlebt hast, dich selber wieder, deine Identität."
Sich erinnern gehört seit alter Zeit zur Tradition von Religionen. Davon erzählen auch die Geschichten in der Bibel.
Auf die zehn Gebote folgt im fünften Buch Mose in Kapitel 6 ein Redestück, in dem den Israeliten eingeschärft wird: Dies ist das Gesetz, das Gott euch geboten hat ‑ der Gott, der für Israel der einzige ist, der von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft zu lieben ist. Am Schluss dieses Kapitels wendet sich der Blick auf die späteren Generationen. Da heißt es:
Wenn dich dann künftig dein Sohn fragt: ‚Was sollen denn die Verordnungen, die Satzungen und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat', so sollst du zu deinem Sohn sagen...
Was wird der Vater dem nachfragenden Sohn antworten?
Wie kann er begründen, woher die Gebote kommen und warum sie zu halten sind? Erklären, begründen, erläutern, vielleicht auch rechtfertigen könnte er das. Das sind Argumentationsweisen, die nahe liegen. Ohne sie kommen wir nicht aus. Aber der alttestamentliche Redner fährt anders fort.
Du sollst zu deinem Sohn sagen:
Wir waren Sklaven des Pharao in Ägypten. Da führte uns der Herr mit starker Hand heraus aus Ägypten und gab uns das Land, das er unsern Vätern zugeschworen hatte. Und der Herr gebot uns, nach allen diesen Satzungen zu tun und den Herrn, unsern Gott, zu fürchten, auf dass es uns wohl ergehe allzeit...(5. Mose 6, 20‑25)
Hier wird nicht argumentiert, sondern eine Erfahrung weiter gegeben. Der Vater erinnert seinen Sohn an eine Befreiungserfahrung:
Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat.
Diese erinnerte Geschichte ist für die Gegenwart bedeutsam. Es sind Erfahrungen, die die Älteren bewahrt haben, um sie den Jüngeren zu erzählen. Es ist Überlieferung gegen das Vergessen.
Der damalige Rückgriff Israels auf seine Erfahrungen macht so etwas wie ein Grundgesetz menschlichen Lebens erkennbar. Menschsein heißt Sich-erinnern-können an Geschichten und an Erfahrungen. Immer sind es zwei Sorten von Geschichten: individuelle Geschichten und kollektive Geschichten, gesammelte Erfahrungen, die in das Leben des Einzelnen hineinwirken, verheißungsvoll oder dunkle Schatten werfend.
Altwerden heißt aus und von Erinnerungen leben und sie weitergeben können. Ich meine, das ist die Aufgabe von uns Alten.
 

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