SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

01JUL2012
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Aus sechs wurden siebenundzwanzig. Als heute auf den Tag genau vor 45 Jahren Montanunion, Wirtschaftsgemeinschaft und Euratom zur „EG", zur Europäischen Gemeinschaft, zusammengeführt wurden, waren nur sechs Staaten Mitglied dieses neuen Bündnisses: Frankreich, Italien, die Benelux-Staaten und Deutschland. Mittlerweile hat sich diese Zahl fast verfünffacht; die Warteliste der Aufnahmekandidaten und derer, die es gerne wären, nicht mitgerechnet. Die Gründerväter waren beseelt vom faszinierenden Gedanken der europäischen Idee. Sie hofften durch diesen völkerübergreifenden Zusammenschluss den Frieden auf Dauer sichern zu können. Die leidvollen Erfahrungen der Weltkriege auf europäischem Boden waren Motivation genug. Zu bitter war die Lehre, dass Krieg keine Lösung war und nie eine sein würde. „Er ist immer", wie es später Papst Johannes Paul II. formulieren sollte, „eine Niederlage für die Menschheit". Doch je weiter wir uns von den grausamen geschichtlichen Einschnitten unseres Kontinents entfernen, je mehr scheint die europäische Idee an Tempo zu verlieren und sich von der großen Idee einer Völkergemeinschaft auf ein pragmatisch-wirtschaftliches Zweckbündnis zu reduzieren. Das mag überspitzt klingen, aber wer stellt sich bei Auslandsbesuchen in den USA oder in Asien mit den Worten vor: „Ich bin Europäer?"
In diesen für Europa schwierigen Wochen und Monaten, die geprägt sind von der Sorge um die wirtschaftliche Stabilität einiger Mitgliedstaaten und der damit verbundenen Krise unserer gemeinsamen Währung, scheint es mir wichtig, den Grundimpuls der europäischen Idee neu in den Blick zu nehmen. Nicht als romantische Vertröstung und Ausflucht. Keineswegs. Sondern als Antrieb und Motivation. Dies befreit nicht davon, die zu lösenden wirtschaftlichen Probleme ohne Zögern und verbindlich anzupacken. 
Doch ist es nicht erschreckend, wie leicht offensichtlich gegenseitige Ressentiments und Vorurteile unter den Völkern Europas wieder in Umlauf geraten? Da tönt es auf der einen Seite, die Griechen seien faul, und auf der anderen Seite tauchen Nazikarikaturen gegen die deutsche Bundesregierung auf. Gegen das Schüren solch dumpfer Emotionen müssen wir uns mit Entschiedenheit wehren.
Dazu hilft der Blick auf unser gemeinsames europäisches Erbe. Erzbischof Zollitsch von Freiburg, der Vorsitzende unserer Bischofskonferenz, hat kürzlich in einem Vortrag in Anspielung auf die sieben Gründungshügel Roms gesagt: „Im Bild gesprochen, sind es vier Hügel, auf denen unsere europäische Identität wurzelt: Der Areopag in Athen mit den griechischen Idealen von Freiheit und Demokratie; das Kapitol in Rom mit dem klassischen Ideal von Recht und Gerechtigkeit; der Sinai mit dem Dekalog und der Bundesweisung Gottes; und schließlich der Berg Kalvaria in Jerusalem, auf dem Jesus Christus für uns in den Tod ging und bis heute zeigt, dass Liebe und Solidarität größer sind als alles, was wir uns ausdenken und erfinden können. Unsere abendländisch christliche Kultur hat die tragenden Ideen und Werte der Antike aufgenommen und integriert. Durch Jesus Christus und sein Evangelium erhielten sie ein neues Vorzeichen. Solidarität und Nächstenliebe machen Freiheit, Recht und Gerechtigkeit zu wahrhaft menschlichen Werten." 
Wenn das stimmt, dann ist die bewusste Feier des Sonntags nicht bloß ein Akt privater Frömmigkeit und Innerlichkeit, sondern ein sozialer Beitrag, um uns auf die Fundamente zu besinnen, aus denen wir in Europa wesentlich leben, und um sie tragfähig zu halten. Als Christen beziehen wir unsere primäre Identität nicht aus dem Blick in den Pass, sondern aus dem Bewusstsein, von Gott geschaffen zu sein, aus dessen Blickwinkel wir alle ein Volk sind. Sein Volk. Mit dem Reichtum unterschiedlicher Kulturen und Traditionen, mit der Gefahr, unsere Freiheit zu missbrauchen, mit der Fähigkeit, Unterschiede auszuhalten, ja sie zu wertschätzen, und der unglaublichen Chance, Konflikte zu überwinden und sich zu versöhnen. „Gott gibt dazu die Kraft" (2 Tim 1,8). 
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen, Ihren Familien und allen, die Ihnen verbunden sind, eine bewusste und gesegnete Feier des Sonntags!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13325
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