SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Warum gibt es Neid, Hass und Gewalt? Warum gibt es das Böse?
Viele Menschen stellen sich immer wieder diese Fragen. In der Erzählung von Kain und Abel aus dem 1. Buch Mose haben diese Fragen über alle Zeiten hinweg ihren bildhaften Ausdruck in der Geschichte vom Brudermord gefunden. Kain erschlägt seinen Bruder Abel aus Neid und Missgunst. Der Bruder erschlägt den Bruder. Kain muss mit dieser Tat leben, muss sich der Frage Gottes stellen: Wo ist dein Bruder?
Kain lehnt die Antwort auf diese Frage ab. Soll ich meines Bruders Hüter sein?Ja, sagt Gott, du bist der Hüter des anderen.
Es ist eine Geschichte, die Sie und mich anspricht: Wir alle sind Nachkommen Kains. Menschen werden schuldig, überall dort, wo ein Mensch einem anderen Gewalt antut.
Was wäre, wenn Kain heute anders antworten könnte? Wenn er sagen könnte: Steh auf, Abel, ich bin dein Hüter. Ich bin für dich verantwortlich.
Hilde Domin, deutsche Lyrikerin jüdischer Herkunft, sagt aus der Erfahrung ihrer Geschichte in einem Gedicht, das sie für ihr wichtigstes gehalten hat:

Abel steh auf / es muss neu gespielt werden / täglich muss es neu gespielt werden / täglich muss die Antwort noch vor uns sein / die Antwort muss ja sein können / wenn du nicht aufstehst Abel / wie soll die Antwort / diese einzig wichtige Antwort / sich je verändern /.../ steh auf / damit Kain sagt / damit er sagen kann / Ich bin dein Hüter / Bruder / wie sollte ich nicht dein Hüter sein /.../ Abel steh auf / damit es anders anfängt / zwischen uns allen...

Dies ist ein atemloses Gedicht, ohne Punkt und Komma, ohne ein einziges Satzzeichen. Also: gehetzt zu sprechen. Warum? Ist es die Angst der Dichterin, es könnte die Kain-Abel-Situation, das heißt: der eine schlägt den anderen tot, das Grundmodell unseres Zusammenlebens sein? Weil das nicht sein darf, heißt es fast programmatisch: Abel steh auf. Abel, sei nicht tot. Abel, bleib am Leben.
Dieser Grundzug wird im Gedicht mehrfach variiert. Der Ausgangspunkt dafür ist: Die alte Geschichte darf nicht das letzte Wort behalten, vielmehr:
täglich muss es neu gespielt werden, täglich muss die Antwort noch vor uns sein.
Warum? Weil die Gewaltlösung - Kain erschlägt Abel - nicht das letzte Wort für alle Kommenden haben darf.
Wenn Menschen heute lernen könnten, eine andere Antwort auf die Frage:

Woist dein Bruder? als Kain zu geben - dann, ja dann sähe die Weltgeschichte anders aus.
Abel steh auf.
Stünde Abel auf, könnte Kain sagen:
Ich bin dein Hüter / Bruder / wie sollte ich nicht dein Hüter sein.
Friede sei mit dir, Bruder!
Dann bräuchten die Kinder Abels / sich nicht mehr fürchten, weil Kain ein Hüter seines Bruders wird.
So lange aber die Frage offen bleibt, gilt die Strophe:
Abel steh auf / damit es anders anfängt / zwischen uns allen

Was ist zu tun, damit die Geschichte von Kain und Abel heute anders verläuft?
Jeder von uns müsste begreifen: Wer tötet, tötet seinen Bruder, tötet seine Schwester.
Die Geschichte von Kain und Abel ermahnt mich zu begreifen: Gewalt soll nicht das letzte Wort sein. Dieser Aufruf, es anders zu machen als Kain, heißt: Verlier den Glauben an den Mitmenschen nicht, sei du deines Bruders Hüter, sei du nicht sein Täter. Leb keine Gewalt, sondern brüderliches und schwesterliches Miteinander. Dann besteht die Hoffnung, dass es anders anfängt zwischen uns allen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=13223
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