SWR4 Abendgedanken RP

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Ich bewundere immer wieder Menschen, die in Not sind, und dabei auf ganz ungewöhnliche Ideen kommen. Flüchtlinge, Gefangene, Verfolgte. Faszinierend, auf was man kommen kann, um jemanden zu retten, um in die Freiheit zu gelangen oder auch nur um Nachrichten weiterzugeben.
Gefangene schreiben Gedichte, obwohl sie eigentlich gar kein Papier haben. Sie kritzeln mit dem eigenen Blut, wenn man ihnen die Tinte verweigert. Oder sie schmuggeln Kassiber, wo es scheinbar gar keinen Weg gibt.
Von einer ganz besonderen Überlebensstrategie erzählt Barbara von Haeften, eine der Frauen der Widerstandskämpfer des 20. Juli. Sie berichtet, wie sie mit Hilfe der Lieder des Gesangbuches mit der Inhaftierten in ihrer Nachbarzelle, mit Gräfin Yorck, tröstliche Gedanken austauschen konnte. Ihren goldenen Trauring durften die Frauen auch im Gefängnis behalten. Und mit ihm klopften sie die Gesangbuchnummer eines Liedes an die Zellenwand. Die Strophen wurden dann gekratzt, so dass man deutlich unterscheiden konnte: Lied 368, Vers soundsoviel. So konnten sie sich verständigen, so wünschten sie sich Guten Morgen und sagten sich auch Gute Nacht.
Die Gesangbuchlieder gaben den Frauen Trost und halfen ihnen, Depressionen zu überwinden. Als Barbara von Haeften viele Jahre später einmal von ihrer Tochter gefragt wurde, ob ihr Glaube denn wirklich noch so lebendig sei, antwortete sie: „Je älter ich werde, desto weniger kann ich über meinen Glauben aussagen." Aber damals, in der direkten Bedrohung des eigenen Lebens und dem Tod ihres Mannes, damals konnte sie seltsamerweise aussagen.
Immer wieder werden Menschen Opfer von Gewalt und Bedrohung. Und immer wieder wird ihnen auf überraschende Weise die Fähigkeit geschenkt, sich über ihre Feinde und Peiniger zu erheben. Mit kreativen Ideen, die ihnen helfen zu überleben. Der Seele wachsen Flügel, auch wenn man sie nicht sieht.

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