SWR2 Wort zum Tag

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Ein Liebesgedicht beginnt mit dem Satz: Wenn du mich anblickst, werde ich schön, schön wie das Riedgras unterm Tau. (Gabriela Mistral, Scham).
Es sind Worte einer Frau, die sich nicht mag, wenn sie in den Spiegel schaut. Sie schämt sich ihres tristen Mundes, ihrer zerrissenen Stimme, ihrer rauen Knie. Aber nun findet sie sich und ihre Schönheit im Blick des Geliebten. Am Ende bittet sie den Geliebten: Senk lange deinen Blick auf mich. Umhüll mich zärtlich durch dein Wort. Im Blick des Geliebten erkennt sie, wer sie ist; in seinem zärtlichen Wort, das sie umhüllt, weiß sie sich wunderbar geborgen.
Ähnlich kann man es auch im Glauben erfahren. Luther hat diese Erfahrung so ausgedrückt:
Die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.
Im April 1518 hat in Heidelberg ein großes Treffen seines Ordens, der Augustiner-Eremiten, stattgefunden. Für ein wissenschaftliches Streitgespräch, eine Disputation im Rahmen dieses Treffens hatte Luther Thesen verfasst. In der Begründung einer dieser Thesen steht der Satz von Gottes Liebe, die auch schuldige Menschen mit all ihrem Versagen erkennen lässt: Gott sieht mich mit Augen der Liebe. Was ich tue getan oder unterlassen habe, macht mich letztlich nicht aus. Ich bin, was ich im Blick der Liebe Gottes bin.
Schon 1518, also zu einem frühen Zeitpunkt in der Geschichte der Reformation hat damit Luther die Grunderkenntnis des reformatorischen Glaubens auf den Punkt gebracht. Die lautet: Ich bin mehr und etwas Anderes als das, was ich von mir selbst weiß. Ich muss mich nicht mit dem begnügen, was ich leiste oder nicht zustande bringe. Ich kann frei werden von mir selbst, von Selbstüberschätzung oder Depression. Ich habe meinen Wert und meine Würde im Urteil Gottes über mich, das ich im Blick seiner Liebe erkenne.
Und diesen Blick der Liebe kann ich sehen, wenn ich höre - höre auf die Worte der Liebe, die mir zugesagt werden. Ich kann sie mir nicht selbst sagen. In Traurigkeit über das Bedrückende, das ich erfahre, und in der Verzweiflung über mich kann ich mich nicht selbst trösten. Mut in den Widerständen des Lebens kann ich mir nur begrenzt selbst machen. Vergeben kann ich mir schon gar nicht selbst. Ich muss die Worte der Liebe hören - immer wieder. Sie helfen mir, wenn es mir schlecht geht und ich mich manchmal selbst nicht leiden kann. Sie lassen mich sehen, dass ich im Blick der Liebe Gottes bin. Darin kann ich mich bergen - mit allem, was ich von mir weiß und was mir widerfährt.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11796
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