SWR4 Abendgedanken RP

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„Wisst Ihr, wie ein Blatt aussieht?", frage ich die Kinder in der 4. Klasse. Klar, die Finger gehen nach oben: grün, rund, mit Stil dran. Dann schicke ich sie auf Entdeckungsreise. Sie sollen Experten für Blätter werden und sich auf dem Schulhof ein Blatt suchen. Die Aufgabe: Ganz genau hinschauen und mindestens fünfzehn Merkmale entdecken und aufschreiben. Ein leises Murren geht durch den Saal: Fünfzehn? Aber es ist doch nur ein einfaches Blatt. Doch schnell sind die Kinder bei der Sache und entdecken viel Neues: die weichen Härchen auf der Unterseite, die feine Blattstruktur mit den zarten Verästelungen, der Farbverlauf von hellgrün bis dunkelgrün. Und darüber hinaus hat jedes Blatt auch ganz eigene Merkmale: das eine ist schon etwas angefressen, das andere hat braune und gelbe Flecken, auf einem dritten sind noch die letzten Tautropfen zu sehen. 15 Merkmale - kein Problem.
Mir geht es häufig ähnlich wie den Kindern - selten mit Blättern aber oft mit Menschen. Ich habe ein Bild im Kopf und meine, diesen oder jenen Menschen schon ganz gut zu kennen. Und dann: in einer Begegnung mit Zeit und Offenheit entdecke ich Neues, Überraschendes und merke, dass ich mit meinem Bild daneben lag. Bei einer Frau aus meiner Gemeinde zum Beispiel. Sie setzt sich mit viel Engagement ein und hilft, wo sie kann. Weil ihre Art zu helfen für mich manchmal auch anstrengend ist, stand bei mir schnell fest: die ist nett, aber vor allem anstrengend. In einer ruhigen Stunde hat sich dann ein Gespräch ergeben und ich habe viel über sie erfahren. Auch über ihre Kindheit, die alles andere als einfach war. Sehr besonnen und offen hat sie über sich und ihren Weg im Glauben gesprochen. Sie möchte, dass es besonders den Kindern und Jugendlichen besser gehe als ihr früher. Und Jesus sei für sie dabei ein Vorbild. Ihre tiefe Motivation hat mich überrascht. Ich empfinde großen Respekt und seit unserem Gespräch auch viel Verständnis, wenn es mal ein bisschen anstrengend ist.
Wieder ist mir klar geworden: es geht mir wie den Kindern mit den Blättern. Die Bilder in meinem Kopf sind wirklich nur Bilder. Und wenn ich Menschen verstehen will - egal, ob meinen Nachbarn, einen Freund oder meine Frau - dann sollte ich hin und wieder auf Entdeckungsreise gehen: mit Offenheit und Zeit für Begegnung. Ich glaube, das lohnt sich.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=11018
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