SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Auf dem Bahnhof sehe ich eine junge Familie. Eine ältere Frau steht dabei. Sie ist wohl die Großmutter des kleinen Mädchens. Sie umarmt das Kind. Lächelnd spricht sie mit dem jungen Ehepaar und sieht doch ein wenig traurig aus. Gleich wird der Zug einfahren, und dann heißt es Abschied nehmen. Ich überlege, was die ältere Frau denken mag oder auch ausspricht. Vielleicht: Es war schön, dass ihr mich besucht habt. Kommt bald wieder. Vielleicht auch: So schnell wird es nicht wieder sein können. Die Entfernung ist zu groß. Aber die Hoffnung auf ein Wiedersehen macht wohl den Abschied doch weniger schmerzlich. Ob die ältere Frau manchmal auch denkt: Wie lange werde ich noch da sein und besucht werden können? Am Leben meiner kleinen Enkelin werde ich nur noch eine begrenzte Zeit teilnehmen können. Irgendwann wird es einen endgültigen Abschied geben, ein Abschied ohne Wiedersehen. Wird das für sie auch ein Abschied ohne Hoffnung sein?
In der für mich schönsten Geschichte, die Johann Peter Hebel geschrieben hat, finde ich eine solche Hoffnung. Sie ist mit Unverhofftes Wiedersehen überschrieben. Es geht um ein junges Brautpaar kurz vor der Hochzeit. Der Mann ist Bergmann und hat, wie jeden Morgen, beim Gang zur Arbeit an das Fenster seiner Braut geklopft und ihr einen guten Morgen gewünscht. Aber dieses Mal ist er nicht wieder vom Bergwerk zurückgekehrt. Jahrzehnte vergingen, und die Braut hat ihren Bräutigam nie vergessen. Aus der jungen, schönen Braut ist schließlich eine alte Frau geworden. Da entdeckten Bergleute eines Tages in großer Tiefe den Leichnam eines jungen Mannes. Der Leichnam war ganz von Eisenvitriol durchdrungen, und das hatte die Verwesung verhindert. Er sah aus, als ob er erst vor einer Stunde gestorben wäre. Niemand kannte ihn, bis die ehemalige Verlobte, alt und gekrümmt, kam und mit mehr freudigem Entzücken als mit Schmerz vor dem Toten niedersank und nach einer Weile sagte: Es ist mein Verlobter, um den ich 50 Jahre getrauert habe. Nun hat mich Gott ihn noch einmal vor meinem Tod sehen lassen. Am Grab sagte sie dann: Schlafe nun wohl... Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald. ... Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Mal auch nicht behalten. Und sie verließ das Grab, ohne sich noch einmal umzusehen - in der Hoffnung auf ein anderes und endgültiges Wiedersehen.
Wie ist eine solche Hoffnung möglich? Als Jesus von seinen Jüngern Abschiednehmen wollte, haben seine Freunde nichts verstanden. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass einfach zu Ende sein sollte, was sie so mit Hoffnung erfüllt hatte. Jesus muss sie mit der Realität konfrontieren: Sein Ende steht bevor, und es wird ein schreckliches Ende sein. Er muss ihnen sagen, dass er ihnen Trauer und tiefe Bestürzung nicht ersparen kann. Aber dann sagt er ihnen auch: Das alles ist doch nicht endgültig. Ihr werdet mich wiedersehen. Ihr werdet voll Freude sein, und diese Freude kann euch dann niemand mehr nehmen. Alle Eure Fragen, Euer Leiden, Eure Ängste werden dann überwunden, und ihr werdet immer bei mir sein. - Es ist eine große Hoffnung, die Jesus den Seinen macht, eine Hoffnung gegen den Tod. Auf ihre Weise hat die Greisin in Hebels Geschichte eine solche Hoffnung zum Ausdruck gebracht. Aber kann eine solche Hoffnung helfen, wenn Leiden und Schmerzen nicht aufhören wollen, wenn schmerzhafte Abschiede das Leben jetzt bestimmen? Jesus meint mit seinen Worten über das Wiedersehen nicht nur die Hoffnung über den Tod hinaus. Er wird nicht im Tod bleiben; jetzt schon kann und will er bei uns sein - durch seinen Geist, und das heißt: in seinen Worten, seinen Zusagen, die in Trauer trösten, in Ängsten Mut machen und die Gewissheit schenken, dass wir geliebt sind und uns von dieser Liebe nichts trennen soll. Das macht die Hoffnung stark.

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