Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„So lange man noch Neugierde in sich hat und staunen kann, ist das Alter egal." Das hat die Dichterin Hilde Domin gesagt. Eines meiner Lieblungsgedichte von ihr spricht von dieser lebendigen, geduldigen Neugier. Es lautet: 

 Nicht müde werden, 
 sondern dem Wunder
 leise
 wie einem Vogel
die Hand hinhalten

Müde werden ist eine Versuchung. „Mir reichts." „Es lohnt sich nicht." „Es ändert sich ja doch nichts." Die Theologen in den ersten Jahrhunderten nach Christus sprechen manchmal vom Mittagsdämon, der den Menschen um die Mittagszeit oder auch in der Mitte des Lebens befallen kann, und ihn träge macht. Dann tut einer nicht mehr viel, und vor allem: Er erwartet nichts mehr. Und wer nichts mehr erwartet, ist lebendig tot. Damit will ich nicht über Menschen urteilen, die immer wieder enttäuscht wurden und neue Schmerzen vermeiden wollen. Aber ich will eine Lanze brechen dafür, immer noch etwas offenzuhalten, nicht alles schon ganz genau zu wissen, nicht zu früh mit allem abzuschließen, eben neugierig zu bleiben, sich überraschen zu lassen. Ich glaube immer mehr, daß es im Leben vor allem darum geht, den Horizont offenzuhalten. Auch christlicher Glaube besteht nicht zuerst darin, daß ich bestimmte Sätze für wahr halte, oder daß ich fest überzeugt mich zu Gott und zu seinem Sohn Jesus Christus bekenne. Vielleicht heißt christlicher, biblischer Glaube: Immer und immer noch von Gott etwas erwarten. Und die Geduld nicht verlieren, zu warten, bis er sich zeigt. Ihm zutrauen, daß er sogar da ist in meinem vergänglichen menschlichen Leben, und daß er es vielleicht verwandeln kann in ewiges Leben, Friede, Glück. Die alte Dichterin Hilde Domin sagt nicht: Leg die Hände in den Schoß. Sie wählt überhaupt nicht die Befehlsform. Stattdessen: die Hand ausstrecken. Sie dem Wunder entgegenhalten. Leise, zaghaft, unsicher, zweifelnd, aber doch. Erwarten und die Hand hinhalten, dass mir, dass uns etwas zufliegen kann. Und hoffen, zumindest offen dafür bleiben, dass der Vogel kommt und sich auf meine Hand setzt. 

     Nicht müde werden,
     sondern dem Wunder
     leise
     wie einem Vogel
     die Hand hinhalten 

(Abel steh auf. Reclam 1977, S.36)

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10554
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