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SWR4 Sonntagsgedanken

14APR2024
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Da ist eine vollkommen verzweifelte Frau: eine Sklavin, die aus ihren fürchterlichen Lebensverhältnissen geflohen ist. Die jetzt auf der Flucht ist, völlig allein, ohne Anlaufstelle und noch dazu – schwanger. Die Bibel erzählt von ihr im Alten Testament. Die Frau heißt Hagar. Sie ist völlig am Ende – da findet sie ein Engel, also ein Bote Gottes; mitten im Nirgendwo. Offensichtlich hat er Hagar gesucht. Ein Engel! Die Rettung für Hagar – könnte man meinen.

In der biblischen Erzählung hört sich der Engel Gottes Hagars Leidensgeschichte an – und schickt sie dann zurück. Zurück zu ihrer Herrin Sarah und damit zurück ins Elend. Und ich denke nur: Wie kann das sein? Der Bote Gottes macht Hagar auch keine Versprechungen, keine Illusionen, dass es besser werden würde. Dass die Herrin ihre Sklavin nun besser behandeln würde oder sie sogar gleichberechtigt leben dürfte. Nein, der Engel schickt sie zurück und sagt ihr ausdrücklich, dass sie sich weiter demütigen lassen soll. Wie kann das sein? Warum ist Gott derart unbarmherzig?

In meinem Hinterkopf tauchen sofort die Bilder von den vielen Flüchtlingen weltweit auf. Und natürlich die Diskussion bei uns über Migration, Integration und Abschiebung. Um auf die Parallele zu kommen, braucht’s nicht viel Phantasie, finde ich. Gerade bei der Diskussion rund um die Abschiebung. Denn selbst wenn geflüchtete Menschen in ihrer alten Heimat nicht mit dem Tod bedroht sind. Und selbst wenn man die Ansicht vertritt, dass wir so viele Menschen bei uns nicht aufnehmen können – ist es nicht unfassbar unbarmherzig von unserer Gesellschaft, diese Menschen zurück in ihre hoffnungs- und perspektivlose Lebensumstände zurückzuschicken?

Der Sonntag heute trägt den altkirchlichen Namen „Misericordias Domini“. Das heißt: „Die Barmherzigkeit des Herren.“ Und gerade heute geht es in den evangelischen Gottesdiensten genau um die Geschichte von Hagar und dem Engel Gottes. Ich finde, man sollte diese Geschichte noch etwas genauer anschauen.

Also noch einmal: Hagar ist geflohen, weil ihre Herrin sie bei jeder Gelegenheit gequält hat. Hagar ist nämlich schwanger. Sie soll an Stelle von Sarah ein Kind austragen, weil Sarah selbst keine Kinder bekommen kann. Eine üble Konstellation. Sarah ist eifersüchtig und lässt ihren Frust an ihrer Sklavin aus.

Und genau in diese Situation schickt der Engel Gottes Hagar zurück. Aber eben nicht, um sie einfach abzuschieben – aus den Augen aus dem Sinn. Der Engel Gottes hatte Hagar ja selbst gesucht und hat ihre Geschichte hören wollen. Und er gibt ihr eine Perspektive für die Zukunft mit. Und Hagar geht zurück – mit der Gewissheit, dass sie einen Sohn zur Welt bringen wird und dass ihr Sohn ein gutes Leben haben wird. Das ist es, was Hagar wohl mehr braucht als alles andere: Die Gewissheit, dass es Hoffnung gibt. Für sie und für ihr ungeborenes Kind!

Wieder muss ich an die Bilder der Flüchtlingsströme unserer Zeit denken. An die vielen Männer, Kinder und Frauen – und auch die schwangeren Frauen – die aus Verzweiflung ihre Heimat verlassen und hoffen, dass sie irgendwo jemanden finden, der ihnen hilft.

Und im reichen Europa und bei uns in Deutschland, da ringen wir um die Frage, ob es vertretbar ist, verzweifelte Menschen einfach zurückzuschicken. Die biblische Geschichte von Hagar lässt mich auf diese Frage klar mit einem „Nein!“ antworten. Selbst wenn wir nicht alle aufnehmen können oder wollen, wir dürfen Menschen in Not nicht einfach abschieben nach dem Motto: aus den Augen aus dem Sinn.  Wenn wir Menschen ohne Hoffnung lassen, dann wäre das wirklich unbarmherzig.

Wie das gehen kann? Wie unsere Gesellschaft Menschen auf der Flucht eine Perspektive geben kann – ob nun hier oder in einem anderen Land? Das ist eine riesige Herausforderung, denke ich. Aber eine, der wir uns stellen müssen. Wir müssen barmherzig sein und Menschen, die zu uns kommen auf der Suche nach Hilfe eine Perspektive geben. Ich denke, das ist es, was mehr braucht als alles andere. Wir brauchen – Hoffnung.

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SWR1 Begegnungen

14APR2024
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Seit 20 Jahren ist Gabi Sauer die Mesnerin der evangelischen Veitskirche in Nehren, einem Dorf bei Tübingen. In anderen Gegenden würde man sagen: Sie ist Kirchendienerin oder Küsterin. Ich würde sagen: Sie ist die gute Seele ihres Kirchleins mit dem markanten Fachwerkturm, sie für frische Blumen auf dem Altar sorgt, die die Glocken läutet und sich darum kümmert, dass sich bei einem Hochzeitsgottesdienst alle wohl fühlen. Nur durch einen Zufall hatte sie damals erfahren, dass händeringend jemand für die Betreuung des Kirchengebäudes und der Gottesdienste gesucht wurde.

Wir sind (...) in die Kirche. Da stand der Pfarrer da. Und er hat mir leid getan: Wenn Sie jemand wissen, der jemand weiß, der jemanden kennt, der gerne Mesner werden würde, dann schicken Sie den doch bitte zu mir.

Ein, zwei Wochen hat Gabi Sauer das in sich gären lassen. Und ist dann zum Pfarrer hin und hat gemeint: 

Also ich weiß jemand, aber das Problem ist, Sie sehen es. Ich bin schwanger und - katholisch bin ich auch. Und Sie sind ja evangelischer Pfarrer.

Der stellte aber sofort klar, dass beides kein Hinderungsgrund war, Gabi Sauer als Mesnerin für die evangelische Kirche anzustellen.

Das ist kein Problem. Das eine vergeht und das andere ist kein Problem.

Seither, also seither sicher über 1000 Mal, beginnt Gabi Sauer den Sonntagmorgen erst einmal mit einer Tasse Kaffee und etwas Ruhe:

Bei einem normalen Gottesdienst ohne Taufe, ohne irgendwas mache ich mich um viertel nach neun auf den Weg zur Kirche. Ich schließ die Kirche auf, mach die Lichter an, zünde die Kerzen an, begrüß den Pfarrer meistens, die Organistin. Die Glocken läuten. Die Gottesdienstbesucher kommen und ich freue mich über jeden, der kommt. Man darf jeden herzlich willkommen heißen. Wir feiern Gottesdienst. Anschließend das Ganze wieder rückwärts, Kerzen aus: Türen zu und der Rest wird am Montag dann erledigt oder am Dienstag... (lacht)

Die 46-Jährige liebt das, was sie tut. Das spürt man. Deshalb ist sie auch „die Mesnerin der Kirch‘“ außerhalb der Gottesdienste.

Ich schließ‘ mich beim Putzen nicht ein. Meine Kirche ist immer wagenweit offen, wenn ich am Putzen bin. Und dann kann man auch mal kommen. Und wenn man dann ins Gespräch kommt, dann kommt da manchmal... ja, die Nöte, die Sorgen der Menschen zur Sprache.

Gabi Sauer ist „die“ Mesnerin ihrer Kirche. Und wenn die Leute zum Gottesdienst kommen, dann kommen sie manchmal eher zu ihr als zum Pfarrer. Als Hausfrau und als Mutter zweier Kinder ist sie außerdem im Sportverein mit dabei. Mit einem Wort, sie ist bekannt und fester Bestandteil eines Dorflebens, wie man es sich vorstellt.

Das Dorfleben hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Und Gabi Sauer erlebt auch die wachsenden Vorbehalte gegenüber Kirche und Glaube, wenn andere erfahren, was sie nebenberuflich macht:

Wie? Du schaffst bei der Kirch‘? Bist du so gläubig? Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Dann sag ich: Also die Bibel, die kann ich nicht auswendig. Aber deswegen kann man trotzdem bei der Kirch‘ schaffen und den Mesnerdienst verrichten.

Mittlerweile ist Gabi Sauer auch als evangelische Kirchengemeinderätin engagiert. Und auch hier erlebt sie live mit, wie stark sich das kirchliche Leben verändert hat und welche Konsequenzen das für sie und den Dienst ihrer Mesner-Kolleginnen und -Kollegen haben könnte.

Ich befürchte, dass es irgendwann das als Bezahltes nicht mehr gibt -  dass man das versucht mit Ehrenamtlichen. Und wenn man jetzt sieht, wie viele Pfarrstellen gestrichen werden, wie viele Gemeinden zusammengelegt werden. Ich weiß es nicht. Ich bin irgendwie skeptisch, wie lange es uns überhaupt noch gibt.

Aber noch gibt es sie, die Mesnerinnen und Mesner, die liebevoll ihre Kirchengebäude betreuen und die Menschen, die hierherkommen, gleich mit. Und – Mesnerinnen und Mesner werden weiterhin händeringend gesucht! Gabi Sauer kann ihren Beruf jedenfalls nur wärmsten weiterempfehlen, auch die Gottesdienste jeden Sonntagmorgen:

Das ist eine wunderschöne Zeit. Das ist für mich nicht arbeiten, sondern fast wie Urlaub. Es tut einfach gut. Ich höre nicht immer der Predigt zu, muss ich ganz ehrlich gestehen. (…) Aber es tut einfach der Seele gut, mal nichts zu hören, (...) die gelernten Lieder einfach zu singen und nichts zu denken und nix tun zu müssen.

In ihrer Kirche erlebt Gabi Sauer gelebte Verbundenheit. Und mir wird klar, wie viel sie selbst entscheidend dazu beiträgt, als sie mir folgende kleine Anekdote erzählt von einer Frau, die sich bei ihr entschuldigt hat, weil sie einmal sonntags nicht in die Kirche kommen konnte. Die alte Dame sagte damals zu ihr:

Ich konnte nicht in den Gottesdienst kommen. Weißt, ich musste Kartoffelsalat mache. Beim Gesangverein habet mer Hockete. Die kann ich die doch nicht im Stich lassen. Aber ich konnte zu dir nicht in die Kirche komme.(lacht)

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

13APR2024
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Jetzt – nach fast zwei Wochen – habe ich mich so langsam an die Zeitumstellung gewöhnt. Mich nervt die Umstellung von Normal- auf Sommerzeit zwar jedes Mal – aber ich liebe es auch, wenn es abends lange hell ist.

Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, da konnte die Abenddämmerung für mich gar nicht spät genug anbrechen. Denn wenn es dunkel geworden ist, dann ist auch meine Seele immer wieder mal in die Dunkelheit abgetaucht. Und ich bin sicher, das geht vielen Menschen ähnlich: Anstatt zur Ruhe zu kommen, fangen die Gedanken an, zu kreisen: Was ist liegen geblieben? Was ist morgen zu tun? Wo weiß ich nicht weiter? Abends stapeln sich ihre Sorgen im Kopf und manche begleitet das sogar bis unter die Bettdecke. Wer nachts nicht schlafen kann, weil die Gedanken kreisen, der hat wirklich eine finstere Nacht.

Am nächsten Morgen ist das Gefühl meistens wieder verflogen. Es wird hell, und bei eine Tasse Kaffee oder Tee sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Ich bin immer froh, wenn mir ein neuer Tag auch neuen Schwung gibt. Bei Licht betrachtet sind meine Probleme auch nicht größer als die, anderer Leute, und ich fürchte, ich nehme sie manchmal einfach zu wichtig. Und trotzdem: Abends sitze ich wieder da und grüble.

Ich ärgere mich darüber, denn eigentlich weiß ich es ja besser. Anstatt auf das zu starren, was liegen geblieben ist, sollte ich lieber an das denken, was mir gelungen ist. Vielleicht ist das gar nicht viel. Vielleicht habe ich nur den Müll rausgebracht oder ein bisschen aufgeräumt - aber immerhin. Und warum sollte morgen nicht etwas Gutes auf mich warten? Morgen ist ein neuer Tag. Und ganz sicher geht die Sonne wieder auf.

Es gibt ein Lied im evangelischen Gesangbuch, das nimmt den Abend und den Morgen zusammen in den Blick: „Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen“ und darin heißt es:

„Die Sonne, die uns sinkt, bringt drüben den Menschen überm Meer das Licht: und immer wird ein Mund sich üben, der Dank für Gottes Taten spricht.“

Das ist doch ein schöner Gedanke: Wenn es hier langsam auf den Abend zugeht, dann geht irgendwo anders auf der Welt gerade die Sonne auf. Ich stelle mir vor, wie die Menschen aus ihren Betten kommen und sich erst einmal recken und strecken. Bestimmt kocht gerade irgendjemand Kaffee - oder was auch immer dort zu einem Frühstück gehören mag. Irgendwo auf der Welt fängt gerade jemand neu an. Und hier bei mir? - Hier kommt nach einer langen Nacht auch wieder der nächste Morgen. Und ich bin gespannt, was der neue Tag bringen wird.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

12APR2024
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Und ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag. Vielleicht haben Sie heute viel vor. Und vielleicht auch schon Pläne für heute Abend – oder sogar heute Nacht. Ich selbst verziehe mich nach Feierabend aufs Sofa. Aber manchmal, da hat der Tag auch einfach nicht genug Stunden. Und es gibt Leute, die können gar nicht genug unternehmen und sind von früh bis spät auf Achse.

Je älter ich werde merke ich, dass es kein Fehler ist, nach einem langen Tag ein bisschen früher ins Bett zu gehen, um mich richtig zu erholen. Der Start in den kommenden Tag fällt dann viel leichter – und deshalb nehme ich mir das auch immer wieder vor. Allerdings klappt das fast nie. Abends überkommt mich nämlich doch wieder das Gefühl, ich könnte irgendetwas verpassen. Oder ich habe tagsüber etwas vor mir hergeschoben, dass ich abends dann noch erledigen muss. Wäre es nicht doch besser, noch eine Weile am Schreibtisch zu sitzen und eine Aufgabe abzuschließen? Schon heute Morgen fürchte ich, dass mir das wieder passieren wird – und ich abends wieder da sitzen werde – vor dem Computer oder vor dem Fernseher – und es später und später wird und der Mond scheint zum Fenster herein.

Der Mond erinnert mich dann hoffentlich an eins meiner Lieblingslieder: Das berühmte Abendlied von Matthias Claudius: Der Mond ist aufgegangen. Da heißt es in einer Strophe:

„Wie ist die Welt so stille und in der Dämm‘rung Hülle so traulich und so hold / als eine Stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer verschlafen und vergessen sollt.“

Matthias Claudius vergleicht die Nacht und ihre Dunkelheit mit einer stillen Kammer, einem ruhigen Zimmer. Da drinnen ist es ruhig und friedlich. Ich bin in Sicherheit und darf ganz beruhigt einschlafen. Und den ganzen Trubel der vergangenen Woche, alles, was liegen geblieben ist, das darf ich einfach einmal verschlafen und vergessen. Ich darf mich erholen.

Das sind doch eigentlich schöne Aussichten – auch jetzt schon frühmorgens, wenn der Tag noch jung ist. Er könnte wieder ziemlich voll werden. Und hoffentlich auch spannend und erfolgreich. Meine Arbeit ist mir wichtig und abends will ich auch noch etwas erleben. Aber irgendwann darf dann auch Schluss sein, auch wenn noch nicht alles erledigt ist und nicht alles erlebt habe, was die Nacht zu bieten hat. Die Nacht ist eben auch zum Schlafen da, und die Dunkelheit hüllt mich ein wie eine ruhige und sichere Kammer. Hier kann ich mich beruhigt erholen.

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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

11APR2024
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Ostern ist noch nicht lange her – das christliche Fest, dass Jesus den Tod besiegt hat und auferstanden ist. Können Sie das glauben? Oder auch andere Glaubenssätze, dass zum Beispiel Jesus Kranke wieder gesund gemacht hat. Können Sie damit etwas anfangen oder solche Erzählung für ihr eigenes Leben deuten?  

Zweifel und auch handfeste Kritik an der Kirche und dem, was sie verkündigt, gibt es nicht erst seit gestern. Eigentlich gibt es die schon immer, von Anfang an, seit es Christen gibt. Und ganz besonders elegant und gekonnt hat Johann Wolfgang von Goethe den Glauben aufs Korn genommen, wie ich finde. Goethe ist einer der berühmtesten deutschen Dichter. Und in seiner Tragödie „Faust“ gibt es eine Szene, in der seine Hauptfigur, Heinrich Faust, zusammen mit einem Gehilfen einen Spaziergang machen. Und zwar im Frühling am Ostersonntag.

Faust ist in dieser Szene allerbeste Laune. Er sieht von einer Anhöhe aus zu, wie die Menschen fröhlich aus der Stadt hinausdrängen – in den farbenfrohen Frühling. Denn – findet Faust – sie haben genug vom dunklen Winter, ihren engen Häusern und von den Zwängen des Arbeitsalltags. Als wären sie selbst auferstanden. Und dann sagt er noch: „aus der Kirchen ehrwürd’ger Nacht / sind sie alle ans Licht gebracht.“

Wie böse! Und wie scharfzüngig: In den Kirchen ist es also zappenduster, und er meint damit: Zappenduster für den eigenen Verstand. Also lieber raus aus den Kirchen, hinein in die Natur, wo es hell ist. Da kann der Mensch selbst denken, seinen eigenen Verstand benutzen und erkennen, wie’s im Leben läuft. So sieht Goethe das also – und reibt es mir als Vertreterin meiner Kirche so ganz nebenbei mal so richtig rein.

Hat er recht? Ja – und nein, wie ich finde. Ja, denn die Kirchen waren im Laufe der Zeit immer wieder wissenschaftsfeindlich. Und nein. Denn in den vergangenen Jahrhunderten haben sie selbst die Wissenschaften auch vorangebracht. Sie haben mit dafür gesorgt, dass alle zur Schule gehen können und selbst nachlesen, was so alles in der Bibel steht.

Mir gefällt die scharfzüngige Kritik von Goethe deshalb gut. Er piekt mich und die Kirchen ein bisschen, damit wir nicht aufhören, nachzufragen und darüber nachzudenken, was der Glaube für unser Leben bedeutet.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

10APR2024
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Vor einigen Jahren habe ich einen jungen Mann kennengelernt – der hatte es wahrlich nicht leicht. Der junge Mann, kaum 19 Jahre alt, musste in eine psychosomatische Klinik eingewiesen werden, weil er magersüchtig war. Magersüchtig war er, weil er kaum etwas essen konnte. Und essen konnte er kaum, weil er sich mit allem, was lebt, auf das engste verbunden gefühlt hat.

Im Gespräch hatte er eine spröde Art. Es mit ihm auszuhalten war nicht leicht einfach, weil man immer das Gefühl hatte, von ihm beurteilt zu werden. Oder besser: als würde man von ihm verurteilt werden: beim Blumenpflücken als sinnloser Zerstörer von Pflanzen. Bei einem unachtsamen Schritt als Mörder von Schmetterlingen und Ameisen. Und mit jedem Brotkrümel, den man auf dem Teller zurücklies, hatte man Ackerboden um sonst gepflügt, mit Dünger und Pestiziden malträtiert und sowieso die Weizenhalme fürs eigene Überleben ausgebeutet.

Es war nicht leicht mit dem jungen Mann. Aber am aller schwersten war es für ihn selbst. Denn er war ja nicht dumm. Er war auch nicht wirklich arrogant oder besserwisserisch. Er wusste genau, dass das völlig übertrieben war, und dass er ein Recht hatte zu leben und zu essen – auch lebendige Pflanzen. Aber seine übergroße Empathie und sein Mitfühlen mit jeder Kreatur konnte er trotzdem nicht unterdrücken – er konnte einfach nicht anders – aus welchen Gründen auch immer.

Einmal, als er etwas Vertrauen gefasst hatte, sagte er zu mir: „Weißt Du, ich sehe eine Art Kraft um alles, was lebendig ist.“ „Du siehst das wirklich?“, frage ich. „Ja – wie eine Aura, eine Art Leuchten um alles, was lebendig ist.“

Ich habe die große Not und das Leid dieses jungen Menschen niemals vergessen. Ich hoffe und bete, dass es ihm heute gut geht – oder wenigstens besser. Und obwohl sein Mitgefühl und seine Empathie für ihn selbst zerstörend gewesen sind – mir hat er eine heilsame Dosis davon mitgegeben. Und ich denke gern an ihn - an seinen Blick auf die Welt und auf alles, was darin lebendig ist und fühlt und wächst - jedes Mal, wenn ich eine Blume pflücke und dann zu meiner Freude in die Vase stecke oder ein paar Brotkrümel mit der Fingerspitze vom Teller sammle und auf der Zunge schmecke.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39687
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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

10APR2024
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Vor einigen Jahren habe ich einen jungen Mann kennengelernt – der hatte es wahrlich nicht leicht. Der junge Mann, kaum 19 Jahre alt, musste in eine psychosomatische Klinik eingewiesen werden, weil er magersüchtig war. Magersüchtig war er, weil er kaum etwas essen konnte. Und essen konnte er kaum, weil er sich mit allem, was lebt, auf das engste verbunden gefühlt hat.

Im Gespräch hatte er eine spröde Art. Es mit ihm auszuhalten war nicht leicht einfach, weil man immer das Gefühl hatte, von ihm beurteilt zu werden. Oder besser: als würde man von ihm verurteilt werden: Beim Blumenpflücken als sinnloser Zerstörer von Pflanzen. Bei einem unachtsamen Schritt als Mörder von Schmetterlingen und Ameisen. Und mit jedem Brotkrümel, den man auf dem Teller zurückließ, hatte man Ackerboden um sonst gepflügt, mit Dünger und Pestiziden malträtiert und sowieso die Weizenhalme fürs eigene Überleben ausgebeutet.

Es war nicht leicht mit dem jungen Mann. Aber am aller schwersten war es für ihn selbst. Denn er war ja nicht dumm. Er war auch nicht wirklich arrogant oder besserwisserisch. Er wusste genau, dass das völlig übertrieben war, und dass er ein Recht hatte zu leben und zu essen – auch lebendige Pflanzen. Aber seine übergroße Empathie und sein Mitfühlen mit jeder Kreatur konnte er trotzdem nicht unterdrücken – er konnte einfach nicht anders – aus welchen Gründen auch immer.

Einmal, als er etwas Vertrauen gefasst hatte, sagte er zu mir: „Weißt Du, ich sehe eine Art Kraft um alles, was lebendig ist.“ „Du siehst das wirklich?“, frage ich. „Ja – wie eine Aura, eine Art Leuchten um alles, was lebendig ist.“

Ich habe die große Not und das Leid dieses jungen Menschen niemals vergessen. Ich hoffe und bete, dass es ihm heute gut geht – oder wenigstens besser. Und obwohl sein Mitgefühl und seine Empathie für ihn selbst zerstörend gewesen sind – mir hat er eine heilsame Dosis davon mitgegeben. Und ich denke gern an ihn - an seinen Blick auf die Welt und auf alles, was darin lebendig ist und fühlt und wächst - jedes Mal, wenn ich eine Blume pflücke und dann zu meiner Freude in die Vase stecke oder ein paar Brotkrümel mit der Fingerspitze vom Teller sammle und auf der Zunge schmecke.

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

09APR2024
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Vor ein paar Jahren war ich Teilnehmerin bei einer Gesprächsrunde von Pfarrerinnen und Pfarrern. Wir haben uns über das Bild von uns selbst ausgetauscht – über unser Selbstverständnis in unserem Beruf. Und kaum hatten wir angefangen, ging es auch schon los, und die eine hat berichtet, wie unzufrieden sie mit ihren Predigten im Gottesdienst ist. Der nächste: wie er bei Beerdigungen manchmal einfach nicht die richtigen Worte findet. Und der wieder der nächste, wie sehr er unter Zeitdruck steht… Der Leiter unserer Runde hat sich das leise lächelnd eine Weile angehört. Und dann gesagt: „Aber verehrte Kolleginnen und Kollegen – wir sind doch als Christen alle gerechtfertigt.

Ich habe das nie vergessen – auch nicht, wie mich dieser Satz damals aus meinen fest eingefahrenen Gedanken herausgerissen hat. Eine der zentralen Aussagen des christlichen Glaubens: Ich bin gerechtfertigt.

Damit ist nicht gemeint: Wenn ich Mist gebaut habe, dass ich dann eine Rechtfertigung parat habe wie: „Mein Wecker hat nicht geklingelt“ oder „Bus verpasst. Selbst wenn es stimmt und mir wirklich etwas in die Quere gekommen ist und ich deshalb eine Sache nicht ordnungsgemäß erledigen konnte. „Ich bin gerechtfertigt“ meint nicht, dass es einen Grund dafür gibt. Sondern gemeint ist: Ich habe Christus an meiner Seite – und der rechtfertigt mich.

Diesen zentralen Glaubenssatz hat der Leiter unserer Gesprächsrunde von Pfarrerinnen und Pfarrern mitten hineingestellt in unser Nachdenken über uns selbst – und man konnte förmlich spüren, wie fast augenblicklich die Atmosphäre eine andere geworden ist. Als hätte jemand das Fenster geöffnet und frische Frühlingsluft hereingelassen. Als wäre der Druck auf der Schulter eines jeden einzelnen von uns auf einmal weniger geworden.

Ich bin gerechtfertigt. Weil ich getauft bin und zu Christus gehöre. Und der ist mein Fürsprecher vor Gott und lässt mich Mensch bleiben – mit allen meinen Fehlern und Unzulänglichkeiten. Es wird mir trotzdem immer zu schaffen machen und niemals egal sein, wenn ich wieder einmal einen Termin vergesse, eine Aufgabe nicht pünktlich erledige oder sonst hinter dem zurückbleibe, was andere zu Recht von mir erwarten können. Aber gerade dann tut es mir gut, wenn ich mich an die Stimme meines Kollegen von damals erinnere: „Frau Wurz, vergessen Sie nicht: Sie sind gerechtfertigt.“

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39686
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Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

09APR2024
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Vor ein paar Jahren war ich Teilnehmerin bei einer Gesprächsrunde von Pfarrerinnen und Pfarrern. Wir haben uns über das Bild von uns selbst ausgetauscht – über unser Selbstverständnis in unserem Beruf. Und kaum hatten wir angefangen, ging es auch schon los, und die eine hat berichtet, wie unzufrieden sie mit ihren Predigten im Gottesdienst ist. Der nächste: wie er bei Beerdigungen manchmal einfach nicht die richtigen Worte findet. Und der wieder der nächste, wie sehr er unter Zeitdruck steht… Der Leiter unserer Runde hat sich das leise lächelnd eine Weile angehört. Und dann gesagt: „Aber verehrte Kolleginnen und Kollegen – wir sind doch als Christen alle gerechtfertigt.

Ich habe das nie vergessen – auch nicht, wie mich dieser Satz damals aus meinen fest eingefahrenen Gedanken herausgerissen hat. Eine der zentralen Aussagen des christlichen Glaubens: Ich bin gerechtfertigt.

Damit ist nicht gemeint: Wenn ich Mist gebaut habe, dass ich dann eine Rechtfertigung parat habe wie: „Mein Wecker hat nicht geklingelt“ oder „Bus verpasst. Selbst wenn es stimmt und mir wirklich etwas in die Quere gekommen ist und ich deshalb eine Sache nicht ordnungsgemäß erledigen konnte. „Ich bin gerechtfertigt“ meint nicht, dass es einen Grund dafür gibt. Sondern gemeint ist: Ich habe Christus an meiner Seite – und der rechtfertigt mich.

Diesen zentralen Glaubenssatz hat der Leiter unserer Gesprächsrunde von Pfarrerinnen und Pfarrern mitten hineingestellt in unser Nachdenken über uns selbst – und man konnte förmlich spüren, wie fast augenblicklich die Atmosphäre eine andere geworden ist. Als hätte jemand das Fenster geöffnet und frische Frühlingsluft hereingelassen. Als wäre der Druck auf der Schulter eines jeden einzelnen von uns auf einmal weniger geworden.

Ich bin gerechtfertigt. Weil ich getauft bin und zu Christus gehöre. Und der ist mein Fürsprecher vor Gott und lässt mich Mensch bleiben – mit allen meinen Fehlern und Unzulänglichkeiten. Es wird mir trotzdem immer zu schaffen machen und niemals egal sein, wenn ich wieder einmal einen Termin vergesse, eine Aufgabe nicht pünktlich erledige oder sonst hinter dem zurückbleibe, was andere zu Recht von mir erwarten können. Aber gerade dann tut es mir gut, wenn ich mich an die Stimme meines Kollegen von damals erinnere: „Frau Wurz, vergessen Sie nicht: Sie sind gerechtfertigt.“

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Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

08APR2024
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Ein Vorteil meiner Wohnung ist, dass ich auch mal zu Fuß zum Einkaufen gehen kann. Der Supermarkt ist nicht weit. Ich gehe also die Straße entlang Richtung Fußgängerampel – da sehe ich gegenüber einen Mann laufen – etwa in meinem Alter. Und ich sehe, dass er weint.

Das ist jetzt zwei, drei Wochen her und ich frage mich, wie’s ihm heute wohl geht. Man weint ja nicht einfach so, ohne Grund. Noch dazu auf offener Straße und in aller Öffentlichkeit. Andererseits: Gibt es überhaupt irgendeinen Ort, an dem Weinen etwas Normales oder Passendes ist? Den Mann hat es auf dem Weg zum Supermarkt gepackt. Warum nicht zu Hause? Weil ihn da vielleicht die eigenen Kinder sehen oder der Partner oder die Partnerin? Oder die eigenen Eltern? Die würden das ja nicht einfach nur sehen, sondern sich auch Gedanken machen. Sich Sorgen machen. Und würden sich vielleicht mit runterziehen lassen. Oder es geht sie vielleicht schlicht und ergreifend nichts an… Dann doch lieber allein auf der Straße, wo wahrscheinlich niemand so richtig hinsieht. Beim Supermarkt angekommen sollte man sich allerdings wieder einigermaßen im Griff haben.

Ich glaube, genau deshalb muss ich an den Mann immer noch denken. Am Supermarkt hatte er sich ganz bestimmt wieder im Griff, oder zu Hause vor seiner Familie oder bei der Arbeit vor den Kollegen. Da geht’s vielleicht sogar lustig zu: positives Betriebsklima, good vibrations… Gute Stimmung teilt man gern mit anderen – warum nicht die schlechte?

Vermutlich, weil es so schwer ist, das eigene Innere zu zeigen. Und das eigene Innere anderen zuzumuten. Ich denke, es gibt viele Menschen, die eher heimlich weinen: auf der Straße, allein im Auto oder nachts allein in der Küche – einfach, weil es gar nicht leicht ist, wirklich in Gemeinschaft mit anderen zu leben. Und gemeinschaftlich wirklich alle zu teilen – die guten Seiten des Lebens, aber eben auch die schlechten.

In der Bibel meint der Apostel Paulus einmal: Wenn ihr Teil der Gemeinschaft von Jesus Christus sein wollt, dann lacht mit den Lachenden und weint mit den Weinenden. Habt Mitgefühl. Scheut euch nicht, von euch etwas zu zeigen und auch, den anderen etwas zuzumuten. Ein weiser Rat, wie ich finde.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39685
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