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SWR2 Wort zum Tag

26AUG2020
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"Über allen Gipfeln / Ist Ruh’ / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch." Zuletzt habe ich das Goethegedicht zufällig in einer Radiosendung gehört, als ich im Krankenhaus lag. Und im Krankenhausbett hört sich dieses Gedicht wirklich anders an als im Deutschunterricht.

Als Krankenhausseelsorgerin bin ich in der Klinik immer nur zu Besuch, ich kann kommen, aber auch wieder gehen, wann ich will. Nun lag ich da, verbunden mit dem Monitor und dem Infusionsständer. Angewiesen darauf, dass mir jemand die Bettpfanne bringt, die Wunde verbindet, Essen und Trinken ans Bett stellt. Und mich im Krankenhausbett durch die Gänge schiebt. Ruhe gab es da wenig. Dazu die Frösche im Teich vor dem Krankenhaus, die mir mit ihrem ohrenbetäubende Gequake schlaflose Nächte bereiteten. Und immer wieder: Aufklärung vor dem nächsten, ärztlichen Eingriff, mit der obligatorischen Unterschrift des Patienten. Vorsichtig wurde ich darauf hingewiesen, dass der nächste Eingriff schlimmstenfalls auch mit dem Dahinscheiden, dem Exitus, auf Deutsch dem Tod enden kann. Als Pfarrerin lebt man ja gewissermaßen mit dem Tod, wenn auch hauptsächlich mit dem der anderen. Und die jungen Ärzte taten mir fast ein wenig leid, wenn sie mir gegenüber dieses unangenehme Thema immer wieder ansprechen mussten.

Aber viel eleganter als die Ärzte hatte ja vorher schon das Goethegedicht die Patientenaufklärung vollzogen. "Über allen Gipfeln / Ist Ruh’ / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch."

Unterschreiben braucht man das nicht. Aber zustimmen muss wohl jeder. Mit großer Ruhe, mit großer Gelassenheit weist dieses Gedicht darauf hin, dass weder ich, noch der Arzt noch sonst wer ewig hier auf der Erde lebt. Dass wir alle, was unsere Sterblichkeit angeht, Patienten sind.

Das Gedicht von Goethe ist Patientenaufklärung und Seelsorge in einem: Es macht mich nicht glauben, ich lebte unendlich und zugleich versichert es mir, dass am Ende eine alles umfassende Ruhe steht. Das tat gut.  Aber schöner war es dann doch, nach einer Woche das Krankenhausbett wieder gegen das eigene zu tauschen und dem Vogelgezwitscher zuhören zu können.

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SWR2 Wort zum Tag

25AUG2020
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Jesus, der mit Mundschutz predigt, Jesus, der den Sicherheitsabstand zu den Kinder wahrt, statt ihnen nahe zu kommen und sie zu „herzen und zu segnen“, wie es in der Bibel heißt – das kann man sich schwer vorstellen.

„Sorget nicht für euer Leben“, rät er in in der Bibel. Betet und vertraut auf Gott. Schließen sich Sorge um das Leben und Gottvertrauen einander aus? Wie wichtig soll und darf ein Gläubiger seine physische Sicherheit nehme? Sind Gebet, Glaube und Gottvertrauen nicht viel mehr wert als ängstliche Vorsichtsmaßnahmen?

Ich halte es eher mit der Einsicht von Lichtenberg, der gesagt hat: „Dass in den Kirchen gepredigt wird, macht deswegen die Blitzableiter auf ihnen nicht unnötig.“ Recht hat er.  Immer wieder gerieten durch Blitzschlag Gebäude in Brand, gerne auch die hohen Kirchtürme. Bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Erfindung des Blitzableiters gemacht wurde. Anfangs eine umstrittene Erfindung, besonders in manchen Kirchengemeinden. Denn „alle Blitze und Schläge hat der Herr abgemessen“, war so mancher fromme Christ überzeugt. „Kein einziger fällt anders, als ihn die ewige Vorsehung bestimmt.“  Wozu dann die neumodischen Blitzableiter, diese „Ketzerstangen“ auf den Kirchtürmen? hat man gefragt. Wenn da der Blitz einschlägt dann hat es der Herr über Blitz und Donner so gewollt.

Den anderen aber hat es sofort eingeleuchtet, dass man Blitzableiter auch auf Kirchtürme installieren sollte. Gab es doch schon damals auch Dämme gegen Fluten und niemand hätte gezögert, einen Brand mit Wasser aus dem nächsten Bach zu löschen. Die Befürworter der Blitzableiter setzten sich durch. Zum Glück. Ihr Argument: „Weil unsere neuesten und glücklichsten Naturforscher bemerkt haben wollen, dass die Gefahr, welche hohen Gebäuden bei entstandenen Gewittern droht, durch eine metallene Ableitung des Blitzes sehr vermindert werden könne, so haben wir es auch an dieser unschuldigen Vorsichtigkeit nicht fehlen lassen wollen.“

Gebet und vernünftiges Verhalten sind keine Alternativen. Sie ergänzen einander. Das eine tun, das andere nicht lassen. Das Beten macht den Blitzableiter nicht entbehrlich. Und umgekehrt: die Blitzableiter oben auf dem Turm machen das Beten nicht überflüssig. Denn auch menschliche Erfindungen zum Schutz des Lebens sind mindestens ein Dankgebet wert.

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SWR2 Wort zum Tag

24AUG2020
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Gartenarbeit mag ich nicht. Kostbare Stunden meines Kinderlebens habe ich riesigen Johannesbeersträuchern opfern müssen. Und tagelang musste ich zur Strafe für irgendetwas Bohnen pflücken - und ich hätte doch viel lieber gelesen. Bücher ja, Garten nein danke!

Ganz anders meine Freundin. Für sie ist ihr Garten reines Glück. Ihr Garten ist ein kleines, zugegeben etwas verwildertes Paradies mitten in der Stadt. Flieder, Rosen, Lavendel, Gladiolen, dazu Pfefferminz, Salbei und große Büsche Rosmarin. Ein einziger Pflaumenbaum sorgt jedes Jahr für eine wahre Pflaumenschwemme. Ein großer Feigenbaum steht direkt vor dem Wohnzimmerfenster. Selbst an der Mülltonne halten sich hartnäckig und unaufgefordert ein paar Löwenmäulchen. Alles extrem insektenfreundlich. Hinter dem Haus eine Wiese, im Schatten der Bäume eine Hängematte. Da kann man dann auch lesen!

Ich denke, dass Gott diesen Garten – wie alle anderen auch - mit dem Wohlgefallen eines Kenners betrachtet. Denn so fing ja alles an. „Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzt den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen.“ (1. Mose 2,8)

Das Paradies war ein Garten. Jeder Garten ist ein Stück Paradies, mit dem einen Unterschied: Kein irdischer Garten ohne schweißtreibende Gartenarbeit. Kein Garten ohne Bücken und Scharren, Läuse und Schnecken, Pflücken und Unkrautjäten.

Die Hängematte allerdings lädt dazu ein, eine Weile nichts zu tun. Abgeschirmt von allen anderen zu beobachten und nachzudenken. Wie jedes Frühjahr alles grün wird und wächst und jeden Herbst die Blätter fallen und vermodern. Wie aus winzigen, unscheinbaren Pflaumenkernen ein ganzer Baum entstehen kann. Wie die Natur sich so einen Garten zurückholt, wenn man ihn nicht ununterbrochen pflegt. Früher waren Gärten einmal ein Triumph der Ordnung gegen den Wildwuchs der Natur. Heute sind Gärten in der Stadt ein Triumph der Natur gegen Beton und Asphalt.

Ich selber steh immer noch nicht auf Gartenarbeit. Aber seit einer Woche gieße ich den Garten meiner Freundin, weil sie im Urlaub ist. Immerhin verstehe ich seitdem das Lob der Gartenarbeit am Ende von Voltaires Roman Candide sehr viel besser. Darin heißt es: „Wir müssen unseren Garten bestellen. Arbeiten wir also ohne viel zu grübeln. Das ist das einzige Mittel, um das Leben erträglich zu machen.“ Vielleicht der erste Schritt auf dem Weg zur Rückkehr ins Paradies.

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SWR2 Wort zum Tag

08APR2020
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Was kann uns trösten, wenn wir einen Menschen verloren haben, der uns über alles lieb ist?

Niels Bohr, der dänische Physiker und Nobelpreisträger, musste miterleben, dass zwei seiner Söhne vor ihm starben. Der eine ertrank vor den Augen seines Vaters bei einer Segeltour, der andere erkrankte und starb mit zehn Jahren. Niels Bohr fing, so las ich, seine Trauer durch ein buddhistisches Märchen auf.

Kisa Gotami war eine fröhliche, junge Frau. Ihr Glück wurde vollkommen, als sie und ihr Ehemann ihr erstes Kind bekamen. Doch eines Morgens wollte Kisa Gotami ihr Kind wecken, aber es rührte sich nicht mehr. Es war völlig unerwartet über Nacht gestorben.

Kisa Gotami war noch nie zuvor dem Tod begegnet und sie wollte ihn nicht akzeptieren. In ihrer Not wendet sie sich direkt an Buddha. Er sagt zu ihr: „Zuerst musst du mir einen Topf mit weißen Senfsamen bringen". „Das ist alles?" fragte sie erstaunt. „Ja, gewöhnlichen Senfsamen. Allerdings muss er aus einem Haus kommen, in dem noch niemals in der Vergangenheit ein Sohn, eine Tochter oder sonst jemand gestorben ist."

Kisa Gotami machte sich sofort auf die Suche und fragte bei ihren Nachbarn nach einem solchen Senfsamen. Die aber antworteten: „Ach Frau, was verlangst du da. Erst vor kurzem ist unsere geliebte Mutter gestorben und davor unser jüngster Bruder. Viele Generationen haben hier gelebt und sind gestorben. Das ist der Lauf der Welt.”
So ging sie den ganzen Tag von Haus zu Haus, aber überall erhielt sie eine ähnliche Antwort. Als sie am Abend immer noch keine Medizin gefunden hatte, da wurde ihr klar: „Ich dachte, ich allein hätte ein Kind verloren, aber in jedem Haus gibt es so viele Menschen, die gestorben sind. Der Tod ist unser Begleiter und es scheint niemanden zu geben, der ihm entkommen kann. " Während sie so darüber nachdachte, wurde ihr Herz, das bisher nur von Trauer erfüllt gewesen war, weit und ruhig, denn sie erkannte: Alle lebenden Wesen sind dem Tod wie einem unabänderlichen Gesetz unterworfen. Und der macht keinen Unterschied, ob einer alt ist oder ganz jung. Unerwartet kommt er, in jedem Augenblick ist er bereit, unser Leben in dieser Welt zu beenden.

Es heißt, Niels Bohr fing mit dieser Geschichte seine Trauer auf. Sein Schicksal, so erkannte er, war das der Kisa Gotami. Und ihres das der vielen, die auch um einen Menschen trauerten.
Um sich trösten zu lassen, brauchte er nicht den Verstand eines Nobelpreisträgers. Es genügte ihm zu erkennen, dass er ein Mensch wie alle anderen ist.

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SWR2 Wort zum Tag

07APR2020
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Jesus kannte Lahme und Blinde, Fallsüchtige und Aussätzige. Coronakranke kannte er noch nicht. Aber auf die genaue Diagnose hat er wohl auch wenig Wert gelegt. Denn die Menschen schienen ihm allesamt ziemlich krank, selbst dann, wenn sie sich für gesund hielten. „Die Kranken bedürfen des Arztes, nicht die Gesunden.“ sagt er. Mit dem „Arzt“ meint er sich selbst, und mit den „Kranken“ uns. Für ihn sind wir alle Patienten, auch, wenn wir uns noch fit fühlen. Warum?„Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten, die Kranken bedürfen des Arztes, nicht die Gesunden.“

Darum heilte er nicht nur Lahme und Blinde, sondern setzte sich mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch. Gegen seine heilsame Tätigkeit hatten auch seine Zeitgenossen nichts einzuwenden. Dass er aber mit Zöllnern und Sündern verkehrte, nahm man ihm übel. Er ließ sich kein Führungszeugnis und kein Vorstrafenregister vorlegen, bevor er mit jemandem sprach. Er machte keinen Bogen um die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, gegen Gesetze und Moral verstießen. Er war nicht wählerisch in seinem Umgang. Im Gegenteil. Jesus verehrte mit allen, nicht nur mit moralisch integren Personen.

Ich hab mich immer gefragt: wenn Jesus heute wiederkäme, wo würde er hingehen, um seine Patienten zu treffe? Ich vermute: er würde einfach an der nächstbesten Tür schellen - und würde vielleicht bei mir landen.

Was mich bei Jesus beeindruckt ist die Verbindung von Offenheit allen Menschen gegenüber, besonders den Nicht-Integren – und die klare Ansage: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Er setzt eindeutig darauf, dass Menschen sich verändern können. Aber er wartet mit seiner Liebe nicht erst ab, bis sie es getan haben. Er nennt sie ganz klar: Sünder. Aber er macht deutlich, dass Menschen, was auch immer sie tun und getan haben, nicht hundert Prozent damit identifiziert werden dürfen.

Jesus zeigt in seinem Verhalten, was Nächstenliebe wirklich bedeutet. Nämlich auch unverzeihliche Taten zu verzeihen, und nichtliebenswerte Menschen zu lieben.(Chesterton)

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SWR2 Wort zum Tag

06APR2020
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Ein Gesundheitstipp in Corona-Zeiten lautet: „Übernimm Verantwortung für deine Gesundheit. Yoga hilft dir dabei.“ Seitdem mache ich mein Morgenyoga: Dehn-und Balanceübungen, 25 Minuten, mit Anleitung aus dem Internet. Und jeden Morgen höre ich dabei den Satz: „Du bist ein Geschenk für die Welt, du bist genau richtig.“ Ein Mut machender Zuspruch für jeden, gerade jetzt. Es ist nicht egal, ob es dich gibt oder nicht. Du bist nicht überflüssig, vielmehr eine positive Draufgabe für das Ganze, für die Welt.

Aber stimmt das überhaupt? Von mir weiß ich sicher: Ich bin bestimmt nicht immer „genau richtig“. Ich kenne mich ja schon eine Weile. Und die Kirchenlieder in der Passionszeit richten den Blick genau auf das, was mit mir nicht in Ordnung ist. Paul Gerhardt beantwortet die Frage: Warum muss gerade Jesus leiden, so:

Nun, was du, Herr, erduldet, 
ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet, 
was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer, 
der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer, 
den Anblick deiner Gnad.

Das ist schon krass: Ich Armer bin alles andere als ein Geschenk für die Welt. Und Arme in diesem Sinne sind für Paul Gerhard alle Menschen. Ab und an zeigen sie sich mal von ihrer besseren Seite – aber wie schnell kann das kippen. Erst offene Arme, dann kalte Schulter. Erst Großherzigkeit, dann Kleinkariertheit.

Dagegen setzt Paul Gerhard den Anblick der Gnade. Ich Arme soll lernen, mich selber zurückzunehmen und nicht immer an erster Stelle stehen zu wollen. Ich soll den Blick auf Jesus richten, der wirklich ein Geschenk für die Welt ist. Ein Mensch, der nicht kippte. Auch nicht in seiner Angst. Darum heißt es in dem Passionslied von Paul Gerhard am Ende:

Wenn ich einmal soll scheiden, 
so scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden, 
so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten 
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten 
kraft deiner Angst und Pein.

So sieht es aus - Gottes Geschenk für die Welt. Und das nicht nur in Corona-Zeiten.

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SWR2 Wort zum Tag

01FEB2020
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Er wollte keine Geheimnisse vor ihr haben. Er wollte nichts vor ihr verbergen und sie sollte sich keine Illusionen über ihn machen. Alles sollte seine zukünftige Frau über ihn wissen, alles. Darum gab Lew Tolstoi, der berühmte russische Schriftsteller, seiner unschuldigen, wesentlich jüngeren Verlobten alle seine Tagebücher. Er wollte ehrlich sein, obwohl er sich seiner eigenen Vergangenheit auch schämte. Er hatte mit Dutzenden von Frauen geschlafen, er hatte einen Teil seines Erbes verspielt, er hatte ein uneheliches Kind.

Sofia nahm die Tagebücher ihres zukünftigen Ehemannes, las sie – und war entsetzt. Als sie ihm die Aufzeichnungen am nächsten Tag zurück gab, hatte sie verweinte Augen. Sie verstand nicht mehr, warum sie diese abscheulichen Berichte überhaupt hatte lesen sollen. Will man denn wirklich von dem anderen alles wissen? Die nackte Wahrheit erfahren? Auch auf die Gefahr hin, dass sie verletzt, dass sie hässlich und eine Zumutung ist?

Mit 18 Jahren hätte ich auf diese Frage geantwortet: Auf jeden Fall! Da soll alles auf den Tisch. Man will den anderen und auch sich selbst wirklich und auch noch in seinen Abgründen kennen lernen. Ich war ein Anhänger des Seelen-Exhibitionismus. Ich wollte immer wissen, wie der andere „eigentlich“ ist.

Aber an dieser Einstellung habe ich immer mehr Zweifel bekommen. Hat der andere nicht auch das Recht, für sich zu behalten, was er für sich behalten möchte? Und habe ich die Kraft, auch die dunklen Abgründe des anderen zu ertragen? Hat er nicht auch das Recht, sich selbst zu schützen und zu verschweigen, woran zu rühren für ihn vielleicht nicht gut wäre? Darf er sich nicht auch seiner nackten Seele schämen dürfen – und darum schweigen? Verstehe ich den anderen wirklich tiefer, wenn ich alles von ihm weiß? Wenn ich ganz dicht vor einem Bild stehe, sehe ich es ja gar nicht mehr.

Lew Tolstoi, der Spieler und Frauenheld, der geniale Schriftsteller und tyrannische Ehemann, hat sich für das Christentum stark gemacht. Seine Frau schrieb darüber in ihrem Tagebuch: „Er hat sich zum Christentum bekehrt. Das Martyrium aber habe ich, nicht er, durchgemacht.“ Ist die nackte Wahrheit über uns Menschen möglicherweise nur für Gott zu ertragen? Von ihm heißt es: Er kennt uns von Anfang an und besser noch, als wir uns selber kennen. Vielleicht muss das genügen.

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SWR2 Wort zum Tag

31JAN2020
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Schuhe, T-Shirts, Handys – mittlerweile spricht sich herum, dass die Masse der Gebrauchsartikel keine Lebensfreude garantiert. Stattdessen: Weniger haben, glücklicher leben! Mehr ist manchmal weniger und weniger mehr. Das wusste allerdings die Tante Jolesch schon vor über 100 Jahren.

Die Tante Jolesch – sie lebte tatsächlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einem Gut in Mähren, schreibt der österreichische Autor Friedrich Torberg. Tante Jolesch hatte jede Menge Verwandte und alle kamen gerne zu ihr zu Besuch. Auch darum, weil Tante Jolesch eine begnadete Köchin war. Ihr allerbestes Rezept: „Krautfleckerln“, eine Mehlspeise, aus kleingeschnittenen Teigbändern und kleingehacktem Kraut.

Wenn die Tante für den nächsten Sonntag Krautlfeckerln plante, dann sprach sich das in der ganzen Verwandtschaft herum. Und wo immer sie auch wohnten, sie kamen aus allen Himmelsrichtungen an diesem Sonntag zur Tante. Niemand hatte an diesem Tag etwas gegessen, einfach um sich den ganzen Hunger aufzusparen. Dann aber mittags, wenn man bei Tante Jolesch einkehrte, wurde serviert. Und es war ein Hochgenuss, jedes Mal aufs neue.

Jahrelang versuchte man der Tante Jolesch mit allen möglichen Listen und Tricks das Rezept ihrer unvergleichlichen Schöpfung herauszulocken. Umsonst. Sie gab es nicht her.

Irgendwann war die Tante so alt, dass sie auf dem Sterbebett lag. Die Familie hatte sich um ihr Sterbelager versammelt. Tante Jolesch lag reglos in den Kissen. Noch atmete sie. Da fasste sich ihre Lieblingsnichte ein Herz und fragte:

„Tante – ins Grab kannst du das Rezept ja doch nicht mitnehmen. Willst du es uns nicht hinterlassen? Willst du uns nicht endlich sagen, wieso deine Krautfleckerln immer so gut waren?“ Die Tante Jolesch richtete sich mit letzter Kraft ein wenig auf und antwortete: „ Sie waren so gut, weil ich nie genug gemacht hab…“ Sprach`s, lächelte und verschied.

Jeder Hobbykoch weiß: dazu gehört Mut! Aber ausprobieren kann man dies Rezept ja einmal. Nicht nur beim Kochen.

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SWR2 Wort zum Tag

30JAN2020
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Sonntagmorgen im Krankenhaus. Der Gottesdienst wird durch das Krankenhausradio übertragen. Doch was bekommt der Patient zu hören? Das Lied: „Bis hierher hat mich Gott gebracht, in seiner großen Güte“. Robert Gernhardt, der Dichter und Zeichner, der das als Patient erlebt hat, notierte dazu: „Vielleicht sollte mal jemand dem Chor im Haussender stecken, dass er vor Krankenhausinsassen singt.“ Vor Kranken, die vielleicht an Gottes Güte berechtigte Zweifel hegen. Bis hierher hat sie Gott gebracht. Wirklich? Ein schönes Kirchenlied, aber leider wohl am falschen Ort zur falschen Zeit gesungen. In den Ohren von Robert Gernhardt jedenfalls hörte sich das an wie ein schlechter Witz.

Kann ich als Krankenhausseelsorgerin in der Orthopädie vor einer Gruppe Rollstuhlfahrer die Bibelverse lesen: “Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ Muss das nicht zynisch klingen? Wie wenn ich mich lustig machen wollte über die Patienten, für die Laufen ein nicht mehr erfüllbarer Traum bleiben muss?

Der Sprachgebrauch in der Öffentlichkeit ist seit ein paar Jahren auch in der Kirche zu einem wichtigen Thema geworden. Das Ziel heißt: so reden und schreiben, dass niemand sich ausgeschlossen fühlen soll, dass alle alles mühelos verstehen und diffamierende und diskriminierende Ausdrücke gar nicht mehr vorkommen.

Auf der anderen Seite weiß man vor lauter Bemühen, Fettnäpfe zu vermeiden, manchmal? kaum noch, wie man reden soll. Die Bibel ist nicht in „politisch korrekter“ Sprache geschrieben, die Lieder genauso wenig. Also alles umdichten? Aus den Brüdern Schwestern oder Geschwister machen, auch wenn sich das nicht mehr reimt?

Der protestantische Theologe Daniel Friedrich Schleiermacher war -vor 200 Jahren - der Überzeugung: das Missverstehen ergibt sich von selbst. Das Verstehen dagegen müsse „allezeit gewollt und gesucht werden.“

Und zwar auch von dem, der zuhört. Der Hörer muss sich wirklich auch bemühen, angemessen zu verstehen. Das könnte sogar bei dem Vers gelingen: „Bis hierher hat mich Gott gebracht in seiner großen Güte.“ Man kann ja wirklich dankbar sein, dass es bei uns überhaupt so etwas gibt wie funktionierende Krankenhäuser mit Menschen, die sich bemühen zu heilen und zu helfen. Gut, dass es sie gibt, diese Orte, selbst wenn dort mal die falsche Musik läuft.

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SWR2 Wort zum Tag

04DEZ2019
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Schon wieder ist ein Jahr fast vorbei. Das Leben ist kurz. Aber was hilf es, darüber zu jammern? Dem römischen Philosophen Seneca jedenfalls, der in etwa zur selben Zeit wie Jesus von Nazareth lebte, ging das ewige Klagen über die Kürze des Lebens mächtig auf die Nerven. Schon zu seiner Zeit, die nach unsere Vorstellungen ja noch im Schneckentempo dahin kroch, jammerte alle Welt: Keine Zeit! Das Leben ist zu kurz!

Seneca schrieb darum eine kleine Betrachtung über die „Kürze des Lebens“. Darin erklärte er: Nicht euer Leben ist zu kurz geraten. Vierzig, fünfzig Jahre sind ja doch eine ganz beträchtliche Zeitspanne. Aber ihr verbringt eure Zeit einfach mit unendlich vielen überflüssigen Dingen. Ihr stehlt euch gegenseitig das Beste was ihr habt: eure Lebenszeit.

Aber was statt dessen? Senecas Rat: Lerne zu leben – und lerne zu sterben. „Jetzt, solange das Blut noch warm, das Leben noch frisch ist, müssen wir uns an das Bessere machen“, schreibt er. Und es sei einfach besser, sich mit der Frage nach dem Göttlichen, mit der Frage nach der Seele und dem Wesen der Natur zu beschäftigen als ewig darüber nachzugrübeln, ob die Frisur richtig sitzt.

Interessant nun, zu erfahren, womit die Menschen vor ungefähr 2000 Jahren nach Ansicht von Seneca ihre Zeit vergeudeten: Der eine ist gefangen in „unersättlicher Habgier“, der andere „dämmert im Nichtstun dahin“. Manche gönnen sich keine Ruhe, weil sie unentwegt „Geschäfte machen wollen in der Hoffnung auf Profit.“ Andere sitzen stundenlang auf dem Sportplatz herum oder gehen jeden zweiten Tag zum Friseur: „Das sind Leute, bei denen eher ihr Staat in Unordnung geraten darf als ihre Frisur“, spottete Seneca.

Seneca war der Überzeugung. Die Menschen unterfordern sich mit all diesen zeitraubenden, leeren Beschäftigungen. Er schreibt: Immer wieder schiebt ihr euer Leben auf und sagt: Das mache ich, wenn ich Zeit habe, irgendwann später. Ohne daran zu denken, dass es vielleicht kein „später“ mehr für euch geben wird.

Seneca war kein Christ. Aber zum Beispiel im Ulmer Münster findet man seine Büste neben denen anderer antiker Gelehrter. So ehrten die Ulmer damals die Männer, die sich über ein richtiges Leben Gedanken machten. Bald ist das alte Jahr zu Ende. Aber noch bleibt Zeit, um Senecas Ratschlag einmal auszuprobieren: jetzt, solange das Blut noch frisch ist, sich mit der Frage nach dem Göttlichen, der Seele und der Natur zu beschäftigen.

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