SWR2 Wort zum Tag

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Jeder Mensch hat Geheimnisse. Und trägt sie manchmal ein Leben lang mit sich herum. Ich mag jemanden nicht – und kann es nie sagen. Ich liebe jemanden, und verschweige es. Ich habe im Supermarkt geklaut, aber keiner darf das wissen. Ich bin traurig, aber möchte, dass es niemand bemerkt. Ich habe etwas getan, gebe es aber unter keinen Umständen zu.
Mit Geheimnissen umzugehen, finde ich nicht leicht. Denn Geheimnisse geben mir Macht und sie sind für mich gefährlich. Geheimnisse schenken Macht: Nur ich weiß etwas – und kann andere in mein Geheimnis einweihen. Geheimnisse sind gefährlich: Denn sie können mich zermürben, fertig machen.
Immer aber gilt: In einem Geheimnis bin ich ganz bei mir. Niemand anders sonst. Wenn ich antworten müsste auf die Frage: Was macht den Menschen aus? Dann würde ich sagen: Dass er Geheimnisse haben kann.
In Geheimnis steckt das Wort »Heim«. Das heißt: Zum Haus gehörig, vertraut. Heute meinen wir eher streng vertraulich, wenn etwas geheim ist. Aber gerade das verbinden Menschen ja mit dem Haus. Das Haus, mein Heim, das ist etwas, das nur mir gehört, wo ich bei mir sein kann. Aber damit erschöpft sich das Geheimnis nicht. Denn auch ich bin im letzten nicht mit mir vertraut, ich bin mir selbst ein Geheimnis. Der französische Philosoph Blaise Pascal hat das einmal so gesagt: „Anfang und Ende der Dinge werden dem Menschen immer ein Geheimnis bleiben. Er ist ebenso unfähig, das Nichts zu sehen, aus dem er stammt, wie die Unendlichkeit zu erkennen, die ihn verschlingen wird.“ (Pensées II, 72) Heißt: Meine Geburt, mein Anfang, und mein Tod, mein Ende, bleiben im Letzten ein Geheimnis. Verraten sich mir nicht. Klar: Ich kann nicht vor den Zeitpunkt meiner Geburt blicken – und ich kann auch nicht sehen, was im und jenseits meines Todes ist. Es gibt Menschen, denen macht das Angst. Mir auch, gebe ich zu. Aber gleichzeitig finde ich es auch spannend, dass ich nicht alles von mir weiß. Denn Geheimnisse zu haben, heißt ja auch: es gibt noch was zu entdecken, es ist noch was offen, es sind nicht alle Rätsel gelöst. Und das heißt: ich darf auch mir selbst gegenüber offen bleiben, ich kann von mir selbst überrascht werden.
Für mich garantiert Gott diese Offenheit. Es gehört zum christlichen Glauben, dass Gott um den Menschen weiß, ihn kennt. Ich finde das ganz befreiend, entlastend. Denn das heißt: ich muss und kann nicht alles von mir wissen. Ich darf mir selbst ein Rätsel bleiben. Darf mir ein Geheimnis bleiben – und das muss mich trotzdem nicht zermürben. Weil jemand anders um mich weiß.

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