SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Jede Zeit hat ihre eigenen, für sie typischen Krankheitsmuster. Die Krankheit unserer Zeit ist der Verlust des Gedächtnisses.
Pure Vergesslichkeit ist dabei noch die harmloseste Variante. Etwa wenn mir ein Name nicht mehr einfällt. Oder wenn ich ein Buch im Bücherregal nicht mehr finde

Meist bleibt das zum Glück ohne schwerwiegende Folgen. Es ist höchstens ärgerlich. Es vermittelt mir aber eine kleine Ahnung davon, wie sich ein großer, krankheitsbedingter Gedächtnisverlust anfühlt. Wenn mir wesentliche Teile meiner Lebensgeschichte einfach weg brechen.

Die Demenz - Folge eines schwerwiegenden Gedächtnisverlustes - ist eine der häufig gestellten Krankheitsdiagnosen der Gegenwart. Die Medizinische Forschung ist bei der Heilung dieser Krankheit immer noch nicht sehr weit gediehen.

Eine andere Form des Gedächtnisverlustes ist aber sehr wohl hausgemacht, Auch die Gesellschaft als ganze kann nämlich ihr Gedächtnis verlieren oder zumindest schädigen. Willentlich verursacht. Also gewissermaßen selbst verschuldet.

Das Interesse an Kultur und Geschichte geht verloren. Bildungspläne werden entschlackt. Geisteswissenschaftliche Fakultäten an den Unis werden zurückgefahren. Religion wird zum Wohlfühlprogramm degradiert. Weit verbreitet zwar. Aber mit gekappter Verbindung zur Vergangenheit

In der Bibel wird ein ums andere Mal eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen. Gott stiftet, wie es in einem Psalm heißt, ein Gedächtnis seiner Wunder. Und er tut dies in Form von Geschichten.

Bemerkenswerte Geschichten sind das: Die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies. Die Geschichte von der Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten. Die Geschichte von der letzten gemeinsamen Mahlzeit Jesu mit seinen Freunden.

Der Glaube an Gott bindet uns zurück an unsere Vergangenheit. Stärkt unser Gedächtnis. Und macht uns gerade so fähig, mutig unsere Schritte auf den Weg in die Zukunft zu setzen. Wer seine Wurzeln abschneidet, lebt gefährlich. Der Augenblick kann mir nicht sagen, wem ich mich verdanke und woher ich komme. Er kennt meine Lebensgeschichte nicht.

Der Glaube an Gott ist ein Glaube, der immer neue Geschichten schreibt. Auch heute noch. Geschichten des überraschenden Gelingens. Geschichten einer wieder aufgelebten Beziehung. Geschichten der Bewahrung. All dies sind im Grunde Geschichten unerwarteter Gottesbegegnungen. So wird unser Leben zum Buch, das immer weiter fortgeschrieben wird. Ein Buch der Erinnerung und des Gedächtnisses. Ein Buch, in dem Gott die Geschichten unseres Lebens täglich neu fortschreibt.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=6110
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