SWR4 Abendgedanken

SWR4 Abendgedanken

04AUG2021
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Ein Schäfer wird gefragt, ob seine Schafe Namen haben. Klar, sagt er. Den weiß ich von jedem einzelnen Tier. Aber: Wie könne er die denn auseinanderhalten, wird er weiter gefragt. Die sehen doch alle gleich aus. „O nein!“, sagt er. Das eine habe eine Wunde am Bein, dem anderen fehle ein halbes Ohr, wieder ein anderes humple gerade. Und so weiter. „Ich kann sie an dem erkennen, was ihnen fehlt, wo sie verwundet sind.“

Ein Kollege hat mir diese Geschichte erzählt. So nebenbei. Wir waren im Gespräch darüber, was das Alter so alles mit sich bringt. Für mich steckt in dieser kleinen Episode eine tiefe Wahrheit. Ein Mensch mit unverwechselbarem Charakter werden wir nicht dadurch, dass wir möglichst perfekt sind. Oft ist es nur Fassade, wenn jemand äußerlich besonders schön wirkt. Das entspricht vielleicht dem gerade gängigen Modeideal, aber es spiegelt kaum wider, was jemand erlebt hat, das ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er ist. Da spielt ganz anderes eine Rolle. Bei mir waren es mehrere Einbrüche, die mein Leben durchkreuzt haben, Krisen und Krankheiten. Der Tod meines Vaters. Eine Phase der Erschöpfung. Die Narben davon trage ich bis heute mit mir herum. Sie gehören zu mir. Auch und gerade sie machen mich zu dem, der ich bin. Die Wunden sind verheilt, aber ich kenne die Stellen, wo es wehtut und wo ich vorsichtig sein muss, dass die Narben nicht erneut aufbrechen.

Das wissen auch die Menschen, die mit mir vertraut sind. Sie wissen, dass mich nicht zuletzt die Verletzungen zu der Person gemacht haben, die ich heute bin. Und sie achten mit darauf, dass ich damit gut leben kann. Echten Freunden brauche ich keine heile Welt vorzuspielen. Mit ihnen kann ich über das sprechen, was wehtut. Sie kennen auch das Dunkle und Schwere an mir und wissen damit umzugehen.

Und noch etwas: Wenn es einmal so sein wird, wie die Bibel sagt, dass ich nach meinem Tod vor Gott hintrete und er mich anschaut, dann glaube ich das eine: Ihm brauche ich am wenigsten etwas vorzuspielen. Er kennt mich. Meine Wunden verbinden mich mit denen, die sich sein Sohn Jesus zu Lebzeiten auf unserer Welt zugezogen hat. Wunden erzählen nämlich auch von der Liebe. Wo ein Mensch liebt, ist er verwundbar. Und das vor allem wird Gott interessieren: wo ich geliebt habe und geliebt worden bin.

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