SWR2 Wort zum Tag

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07MAI2021
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Auf dem Heidelberger Uniplatz sind seit zwei Wochen einhundert Zeitzeugen versammelt. Zwei Meter hoch und einen Meter breit sind die Porträts von Überlebenden der Verfolgung durch die Nazis. Der Mannheimer Künstler Luigi Toscano hat sie aufgenommen. Die Fotos faszinieren mich: Jedes Gesicht erzählt seine Geschichte. Und miteinander erzählen sie dagegen an, dass ich vergesse, was geschehen ist.

Zwischen zwei Fotos ist in das Pflaster des Uniplatzes eine Plakette eingelassen: Sie erinnert an die Bücherverbrennung, die im Mai 1933 hier stattgefunden hat. Die Plakette ist schon lange dort. Durch die Fotos fällt sie aber mehr auf als sonst. Mir kommen die historischen Bilder in den Sinn – die von Nazi-Studenten genau hier.

Irgendwie sind dadurch Opfer und Täter vor mir versammelt und mit ihnen all das, was sie zu erzählen haben, vom Hassen und Gehasstwerden, vom Tötenwollen und vom knappen Überleben. Bei einem Porträt steht, dass die Frau 50 Jahre lang nicht über das, was ihr passiert hat, gesprochen hat. Auch ihr beredtes Schweigen über Unsagbares ist heute spürbar.

Ich bleibe nach meinem Rundgang durch die Ausstellung noch in der Sonne sitzen und lese. Dabei stoße ich auf einen Artikel, in dem ein Mann eine Mobbinggeschichte erzählt. Wie er in seiner Firma zuerst bloß den ein oder anderen Spruch von Kollegen einstecken musste und sich die Sache in der Pandemie dann immer weiter zuspitzte. Er wurde beschimpft und Lügen wurden über ihn verbreitet. Er verlor jeden Halt. Die Situation wurde unerträglich für ihn.

Ich weiß, was die Menschen in der Ausstellung erlebt haben und was der Mann in seiner Firma erlebt, ist nicht vergleichbar. Aber mich verstört, wie schnell und mit welcher Macht Hass und Gewalt sich Bahn brechen können und jemanden zum Opfer machen. Vielleicht passiert das in Zeiten der Pandemie besonders leicht, wenn viel Frust herrscht und Unsicherheit.

Ich habe den Eindruck: Wir leben in einer anderen Zeit als in Nazideutschland, wir sind anders erzogen und wir haben – Gott sei Dank – einen demokratischen Rechtsstaat. Aber wir sind keine völlig anderen Menschen.

Noch einmal schaue ich mir die Ausstellung an. Die Menschen auf den Porträts haben ihr Leben gemeistert. Viele haben Familien gegründet, eine hat ein Buch geschrieben – alle haben zugestimmt, sich für die Ausstellung fotografieren zu lassen. Ihre Augen, ihre Blicke sind beeindruckend. Sie erzählen nicht zuerst die Geschichten des Hasses, sondern vor allem Geschichten vom neuen Leben. Vielleicht hilft vor allem das dem Leben – gegen das Vergessen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=33096
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