SWR2 Wort zum Tag

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30OKT2019
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Reformationstag, Allerheiligen, Allerseelen – diese Gedenktage am Ende der Woche werfen ihre Schatten voraus, nicht nur im Terminkalender. Im Blick auf die Toten stellen sich ernste und vielleicht letzte Fragen. Da mag folgende Notiz von Franz Kafka, dem großen Dichter, zu denken geben. Er sah sich selbst ja am Ende von Judentum und Christentum und wurde ein hellsichtiger Diagnostiker der Gegenwart. Nach Ausbruch seiner tödlichen Krankheit notierte er, und nur auf den ersten Blick wirkt das wie schwarzer Humor: „Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch zu sterben. Dieses Leben scheint unerträglich, ein anderes unerreichbar. Man schämt sich nicht mehr, sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man hasst, in eine neue gebracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt dabei mit, während des Transportes werde zufällig der Herr durch den Gang kommen, den Gefangenen ansehen und sagen: `Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.“

Natürlich widerspricht solch ein Text dem normalen Lebensgefühl. Da soll es fröhlich zu gehen und positiv, und die Sache mit Sterben und Tod ist weit weg. Solch ein Thema am frühen Morgen anzuschneiden, wirkt fast ungehörig. Und die Welt als ein einziges Gefängnis zu betrachten, klingt auch ziemlich düster. Aber Hand aufs Herz. Gibt es nicht unleugbar Situationen, wo das Leben schier unerträglich wird, nicht nur in Krisen oder Depression? Die Welt erscheint tatsächlich wie ein Irrsinn, in den wir eingesperrt sind, ausweglos und nicht zu retten. Absurd das Ganze, und ein elendes Hamsterrad der Langeweile, und schon das Aufstehen ist mühsam. Da kann schon der Wunsch auftauchen, dass endlich Schluss ist. Warum verdrängen, dass ich womöglich lebensmüde bin und einfach keine Lust mehr habe. Kafka jedenfalls schrieb offenkundig aus eigener Erfahrung. Umso erstaunlicher ist bei seinem Bild vom Gefangenentransport von einer Zelle in eine andere dieser Rest von Glauben! Mitten im ausweglosen Leben doch die verrückte Hoffnung, dass es Rettung gibt. Dass da einer auftaucht - ist es der Chef, ist es jemand von außerhalb? Dass er sagt: „der kommt zu mir“, der bleibt bei mir. Kafka nimmt ein uraltes Hoffnungsbild auf, er – der Nachjude und Nichtchrist - spricht vom „Herrn“. Der hat für Christen einen Namen und ein Gesicht, und deshalb ist dann von Gefängnis keine Spur mehr. Jesu Weg führt ins Freie – und schon jetzt ist sein Wort zu hören: „den sollt ihr nicht wieder einsperren, du kommst zu mir“.

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