SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Alle andere Wesen unterscheiden sich durch ihre Schatten,/aber er unterscheidet sich durch sein Licht“. Ein bisschen rätselhaft kommt dieser Zweizeiler daher. Alles wirft ja seinen Schatten, und große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. In der Tat, unterstreicht auch der Verfasser. Er heißt Joseph Joubert und lebte zur Zeit der französischen Revolution. Er hatte Lust, die Sachen beim Namen zu nennen und oft den Punkt zu bringen. „Alle andere Wesen unterscheiden sich  durch ihre Schatten“  - ja, aber Gott eben nicht, und der steht in der Überschrift der Verse. Der hat keine Schatten wie jeder von uns. „Er ist Licht, und Finsternis ist nicht in ihm“. Sagt die Bibel. Ja mehr noch: Gott unterscheidet sich durch sein Licht von uns, von allen anderen Wesen, er sieht sozusagen blendend aus: Licht in Potenz, nichts als gute Ausstrahlung, keine Risiken und Nebenwirkungen. Nur Licht, nur Wärme, nur Güte – ganz im Unterschied zu uns Mischwesen aus Licht und Schatten, und Gut und Böse.

Schön finde ich an diesem alten Zweizeiler die nüchterne Genauigkeit: kein menschliches Leben ohne Schattenseiten, pure Lauterkeit und Transparenz ist unter uns Menschen und in der Welt nicht zu haben. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Wie gut tut z.B. bei Hitze der Schatten der Bäume und Häuser. Und manches wächst im Schatten still vor sich, bis es dann reif und attraktiv ist. Dichter und Wissenschaftler sprechen vom Schattenreich der Träume und Ideen: welche eine Schatzkammer, welch ein Zwischenreich des Kreativen. Ständig im Licht stehen, wäre für unsereinen die nackte Folter. Und andere in den Schatten stellen, um selbst toll da zu stehen, ist gewiß nicht die feine Art. Kurzum: ob produktiv oder destruktiv – Schatten gehören zum Menschen, zum Kosmos. Und immer verdanken sie sich dem Licht.

Aber Licht in Reinkultur, Licht ohne Schatten! Das macht den großen Unterschied! Als wär es nichts für uns und unsere Augen, wirkt es blendend. Da kann einem schwarz vor den Augen werden wie beim Blick in die Sonne. Davon sprechen biblische Geschichten, davon die Mystiker: „In deinem Licht sehen wir das Licht“, jubelt der Beter in Psalm 36.  Hildegard von Bingen bekennt, dass sie alles im Licht der göttlichen Sonne sieht, und manchmal sieht sie darin ein anderes Licht, für Momente nur. Und dann fühlt sie sich wie ein junges Mädchen und nicht wie eine alte Frau. Ja, heute im Morgenlicht sei es unterstrichen, mit dem Licht der Vernunft und im Lichte des Glaubens: „Alle andere Wesen unterscheiden sich durch ihre Schatten,/ aber er unterscheidet sich durch sein Licht.“ Gott sei Dank!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=28074
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