Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Es gibt ein Foto von meiner Mutter, aufgenommen im ersten Nachkriegs-Winter 1945.
Meine Mutter als kleines Mädchen mit ihrer Familie.
Armut und Hunger bestimmten die Zeit.
Doch meine Mutter war kugelrund und hatte kräftige Pausbacken.
Der Rest der Familie war dagegen ganz abgemagert,
die Kleider schlotterten ihnen um den Leib.
Das Bild spricht für sich. Es erzählt von Verzicht und Fürsorge.
Dass meine Mutter in jenem Winter so wohl genährt war,
hatte die Familie hingekriegt mit Schroddeln.
Meine Oma benutzte das Wort immer, wenn sie mir Geschichten aus jener Zeit erzählte.
Ins Hochdeutsche würde man es wohl so übersetzen: mit Schrott handeln.
Das Wort zeigt, dass es um gebrauchte, benutzte Dinge ging.
Manchmal waren sie tatsächlich schrottreif.
Doch hütete man die früher wie seinen Augapfel.
Neuanschaffungen konnte sich direkt nach Kriegsende keiner vorstellen;
es wurde ja auch kaum etwas Neues hergestellt.
Schroddeln beschreibt den Tauschhandel, als es fast nichts gab.
Wer Zigaretten hatte und nicht rauchte, tauschte sie gegen Lebensmittel.
Wer zwanzig Bände Goethe hatte, gab sie für Kleiderstoff,
und ein Plattenspieler wurde zu einem Mantel.
Von manchen liebgewordenen Sachen musste man sich trennen.
Denn fast mit allem konnte man schroddeln.
Und natürlich gehörte auch Verhandlungsgeschick dazu,
damit man nicht über den Tisch gezogen wurde.
Man musste mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen.
Die Armut machte erfinderisch, weil es darum ging,
durchzukommen und am Leben zu bleiben.
Es war der Versuch, aus allem das Beste zu machen.
Tun, was geht, und die Hoffnung nicht verlieren. Darauf kam es an.
In den Familien kam das vor allem den Kindern zu Gute.
Deshalb ist Schroddeln für mich mehr als
Verhandlungsgeschick, Organisationstalent und Geschäftstüchtigkeit.
Wenn ich das Bild meiner Mutter betrachte, dann weiß ich: Es geht um Fürsorge.
Und Fürsorge für Kinder ist kein Handel mit Schrott. Es ist ein Stück Himmel auf Erden
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