SWR2 Wort zum Tag

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„Es gibt keine Regeln. Es gibt nur Ausnahmen, für die man die Gnade erwerben muss, sie zu erkennen. Denn sie haben sich als Regel getarnt.“

Beim Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre bin ich vor einigen Wochen auf diesen Satz gestoßen. Und seitdem mischt er sich immer neu in mein Leben ein. „Es gibt keine Regeln. Es gibt nur Ausnahmen, für die man die Gnade erwerben muss, sie zu erkennen. Denn sie haben sich als Regel getarnt.“

Meine Erfahrung lehrt mich zunächst das Gegenteil. Die Regeln und die Erfahrungen, die ich in einer konkreten Situation gewonnen habe, helfen mir, eine ähnliche Situation besser zu bewältigen. Wenn das nicht so wäre, würde mich das Leben vermutlich überfordern.

Aber mich beschleicht zusehends mehr das Gefühl: Diese Vorgehensweise macht zwar vieles einfacher. Aber der konkreten Situation wird sie oft nicht gerecht. Wenn ich einem Menschen in einer bestimmten Weise begegne, weil ich eine ähnliche Situation mit jemand ganz anderem im Kopf habe. Oder wenn ich eine bestimmte Entscheidung nicht treffe, weil sie sich beim letzten Mal auch als falsch erwiesen hat.

Der Satz von Wolfdietrich Schnurre bestätigt mich in meiner Skepsis gegenüber allem vorschnellen Vergleichen. Nicht nur im Blick auf Regeln. Und ich spüre: Ich werde der Unterschiedlichkeit bestimmter Situationen und Abläufe nicht gerecht, wenn ich nach Regeln suche, um so zu scheinbar einfachen Lösung zu finden. Wolfdietrich Schnurre legt dagegen energisch Widerspruch ein. Das imponiert mir.

Bei Schnurre ist das so etwas wie die Bilanz seines bewegten Lebens, in dem er im Rückblick keine Regeln erkennen kann. Der Philosoph Heraklit brachte das mit dem Satz zum Ausdruck: „Man steigt nie zweimal in denselben Fluss.“ Er ist eben immer anders. Eigentlich ist jedes Mal das erste Mal. Alles, was mir im Leben als scheinbare Gesetzmäßigkeit zustößt, ist im Grunde einzigartig. Eine Ausnahme, wie Schnurre sagen würde.

Das fordert mich heraus. Und überfordert mich nicht selten. Deshalb spricht Schnurre davon, es sein eine Gnade, dies zu erkennen. Gnade heißt, ich kann am Ende doch ertragen, was mir da an Ausnahmen zugemutet wird. „Verlass dich ganz auf diese Gnade. Das genügt. Dann wird dir das Leben auch mit beschränkter Kraft gelingen!“ (2. Korinther 12,9) Paulus bekommt diesen Satz von Gott zugesprochen. Dieser Satz hilft auch mir, einem Leben voller Ausnahmen von der Regel einen Sinn abzugewinnen.

Wolfdietrich Schnurre, Der Schattenfotograf, 1978/2010

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26836
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