SWR2 Wort zum Tag

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„Es ist ein langsamer und schmerzlicher Prozess, zur wirklichen, inneren Selbständigkeit geboren zu werden. Mit immer größerer Sicherheit zu wissen, dass es nie und nimmer Hilfe, Unterstützung und Zuflucht bei anderen geben wird. Dass die anderen genau so unsicher, schwach und hilflos sind wie du selbst.“  So notierte Etty Hillesum, eine unglaublich reife junge Frau, in ihr Tagebuch, sie ist gerade mal 27 Jahre alt. Sie will sich nicht länger auf andere herausreden oder mit ihnen vergleichen. Man spürt förmlich das Erstaunen, ja Erschrecken darüber, für alles selbst verantwortlich zu sein. Ausdrücklich fügt sie hinzu: „Vor allem als Frau. Es besteht doch immer der Drang in dir, dich in dem anderen, dem Einzigen zu verlieren. Aber auch das ist eine Fiktion, wenn auch eine schöne. “  Hillesums Tagebuch ist das Dokument eines unglaublichen Reifungsprozesses.  Da wagt eine junge Frau das Abenteuer der Selbstwerdung; nicht zufällig ist dieser Mut, das eigene Schicksal bewusst in die Hand zu nehmen, verbunden mit der Entdeckung Gottes, der in allem trägt und führt. Etty spürt diese letzte Einsamkeit und Intimität, in der jeder Mensch für sich allein grade zu stehen hat; sie findet den Mut, Ich zu sagen.  Das setzt nicht nur Ängste und Fragen frei, wunderbar ist - wie sie sagt - auch das „Gefühl des Stolzes und der Unabhängigkeit“.

So äußert sich Etty Hillesum bisweilen ganz kokett. Sie fordert sich z.B. auf, nicht dauernd in den Spiegel zu schauen.  Sie weiß also um die Gefahren egoistischer Selbstverwirklichung. Klar erkennt sie. Alles, was uns an anderen nervt und ärgert, ist in uns selbst, notiert sie einmal. Je schonungsloser und liebevoller wir das anschauen und annehmen, desto freier werden wir für andere. Etty Hillesums Tagebuch zeigt das konkret und originell. Immer offensiver nimmt sie an den fatalen politischen Nazischikanen wahr und hilft mit, wo sie kann.  Bald kann sie schreiben: „Eigentlich ist mein Leben ein unablässiges `Hineinhorchen ` in mich selbst, in andere und in Gott. Und wenn ich sage, dass ich `hineinhorche `, dann ist es eigentlich Gott, der in mich `hineinhorcht `. ……“ (176).

Sehr treffend beschreibt Etty Hillesum ihr kurzes, immer stärker bedrohtes Leben als einen fortschreitenden Geburtsprozess:  mehr zu sich kommen und zu anderen, stets mehr zu Gott und zur Welt. Und das nicht verträumt und nach Laune, sondern ganz handfest, in den konkreten Verhältnissen jetzt, hier und heute.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26714
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