SWR2 Wort zum Tag
SWR2 Wort zum Tag
Es gibt Dinge, die nur Augen sehen, die geweint haben.“ Diesen Satz fand ich im Nachlass einer alten Freundin, und er berührt mich. Ja, es gibt Anlass zum Heulen genug. Aber welch ein Glück, wenn wir uns an der Brust und in Armen eines Menschen ausweinen können! Welch eine Not, wenn Tränenseen sich nach innen stauen und nicht abfließen können! Wie viel seelische Trockenheit entsteht. Man muss nicht nahe am Wasser gebaut haben, um von der Heilkraft der Tränen zu wissen. Zudem ist ja Weinen keineswegs nur durch Leid und Schmerz ausgelöst. Warum kommen uns Tränen bei einem guten Witz oder einer großen Lache? Warum kann einen etwas Schönes bis zu Tränen erschüttern, in der Kunst etwa und in der Liebe - oder eben im Religiösen? Ja, „Tränen sind das Grundwasser der Seele“. Steigt es, kann es Leib und Seele fruchtbar überfluten; sinkt es aber, sind gefährlichste Trockenphasen zu befürchten.
„Gib mir die gabe der tränen, gott/“, betet deshalb die Theologin Dorothee Sölle, „ gib mir die gabe der Sprache/ gib mir das Wasser des Lebens“. So groß ist die Gefahr der Versteppung und Verwüstung unseres Zusammenlebens, so lebensgefährlich ist schon die Wassernot. Beten heißt, sich berühren und erschüttern lassen. Von früh an geht es dabei um die Gabe der Tränen. Betend möchte der Mensch wahrer werden, die Lebens- und Liebesenergien sollen fließen. Und dann bin ich manchmal umso mehr entsetzt über das eigene Mittelmass. Es braucht Mut und Konsequen, um der eigenen Lebensstimme zu folgen und auf den Lockruf Gottes zu hören. Aber nicht nur die heilsamen Tränen der Reue und Selbsterkenntnis sind es; auch das Schöne gibt es, das zu Tränen der Freude hinreißt. Im Nazigefängnis schrieb Alfred Delp von beidem: „Wir (aber) bleiben (oft) in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen.“
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